Das Geschäft mit der Zukunft war immer schon ein schmutziges. Einfache Zukunftswahrheiten gibt es nämlich nicht. Dennoch machen Zukunftsforscher mit einfachen Zukunftsweisheiten nach wie vor ein gutes Geschäft. Warum es trotzdem angemessen ist, aktuell von einer Zeitenwende zu sprechen und wie sich Unternehmen darauf einstellen sollten.
Hohe Komplexität und Dynamik waren immer schon die Kerneigenschaften (post-)moderner Gesellschaften. Und eine ausgeprägte Veränderungsbereitschaft Teil eines zukunftsorientierten Managements und Unternehmertums. Dennoch fällt auf, wie sehr aktuell in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik von einer fundamentalen „Zeitenwende“ die Rede ist.
Erst vorgestern war im Handelsblatt zu lesen, dass ein Kreis führender Wirtschaftswissenschaftler angesichts der aktuellen weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Herausforderung eine „Zäsur“ diagnostiziert, aus der fundmentale Veränderungen in unserem politischen, gesellschaftlichen und unternehmerischen Handeln resultieren müssten.
Man ist versucht, derartige Diagnosen schnell als einseitig und übertrieben abzutun. Von „tipping points“ spricht die Zukunftsforschung schließlich immer wieder. Und liegt dabei ziemlich häufig daneben.
Vor einigen Monaten erst war im FOCUS zu lesen, wie bspw. der deutsche Trendforscher Matthias Horx mit seinen Hypothesen zu den Folgen von Corona mächtig daneben gelegen habe. Gerade mal 25% seiner Prognosen seien laut FOCUS zutreffend.
Zweifel beim Ausruf von „Zeitenwenden“ durch Zukunftsexperten sind daher tatsächlich angebracht. Dennoch gibt es gute Gründe, warum in der aktuellen Situation die Diagnose einer Zeitenwende tatsächlich angebracht ist.
Die anhaltende Pandemie, der Ukraine-Krieg, der Klimawandel, die Rohstoffkrise, herausgeforderte Lieferketten, explodierende Preise, bis hin zu Verschiebungen im Wertgefüge der Menschen, all das spricht dafür, dass die aktuellen Veränderungen doch fundamentaler sein könnten.
Und dass diese tatsächlich nach einem „paradigm shift“ verlangen, nicht nur in der Politik, sondern auch in unserer Art des Wirtschaftens. So wie es etwa der ehemalige Managing Director von JP Morgan, John Fullerton, im Januar 2022 in seinem Podcast “Regenerative Economics: A Necessary Paradigm Shift for a World in Crisis” gefordert hat.
Mindestens genauso wichtig wie ein solcher „paradigm shift“ auf makroökonomischer Ebene ist v.a. jedoch ein „mind shift“ im unternehmerischen Denken, der viel mit dem „Ende vom Ende der Geschichte“ zu tun hat.
Glaubte nach dem Fall der Berliner Mauer eine ganze Generation von Managern, dass mit dem Ende des kalten Krieges dem wirtschaftlichem Wachstum keine Grenzen mehr gesetzt seien, so sehen sich aktuell viele Unternehmen in eben diesem Glauben tief erschüttert. Zu Recht!
Knappe Rohstoffe, galoppierende Energiepreise, unsichere Lieferketten, volatile Finanzmärkte, schwankendes Kundenverhalten, der Klimawandel…, all das sind Phänomene, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger anhalten werden als die aktuelle weltpolitische Unsicherheit oder die anhaltende Pandemie.
Erstaunlich dabei: Die meisten Unternehmen sind auf die damit verbundenen Herausforderungen nach wie vor nur unzureichend vorbereitet, und zwar unabhängig davon, ob sie eher traditionell geführt werden oder zu den Vorreitern einer neuen libertären Unternehmenskultur zählen.
Ein starker Zentralismus, ein straffes Durchregieren von oben und operative Kleinteiligkeit helfen in der aktuellen Situation genauso wenig weiter wie die Hoffnung, mit ausreichend Investoren-Funding, Scrum, Sharepoint, führungslosen Teams, viel Homeoffice sowie Bällebädern und Dachterassenpartys alleine den Herausforderungen unserer Zeit gerecht werden zu können.
Notwendig sind vielmehr fundamentale Veränderungen in Führungsverständnis und Führungskultur der Unternehmen selbst, bei der die richtige Vorgehensweise – wie so häufig – in der Mitte liegt und nicht an den Rändern.
Zu diesen notwendigen Veränderungen zählen m.E. vor allem die folgenden 4 Punkte:
1. Brutale Ehrlichkeit
In den vergangenen Jahren, in denen die Erfolgskurve nur eine Richtung kannte, nämlich die nach oben, war eine ehrliche Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Veränderungsnotwendigkeiten in vielen Unternehmen eher schwierig.
Viele Transformations- und Innovationsvorhaben blieben deshalb eher an der Oberfläche. In Zeiten der Krise muss sich das fundamental ändern. Stattdessen ist jetzt eine „brutale Ehrlichkeit“ gefragt, wie sie bspw. das Handelsblatt bereits im vergangenen Jahr gefordert hat.
Diese brutale Ehrlichkeit muss dabei alle zentralen Fragen der Führung des eigenen Unternehmens umfassen, vom eigenen Geschäftsmodell, über die Produktionsweisen und Lieferketten bis hin zu den Produkt-, Absatz- und Personalstrategien.
Nur auf der Basis einer derart schonungslosen Selbstreflektion lassen sich wirklich die Weichen stellen, die es braucht, um die eigene Zukunftsfähigkeit zu erhöhen.
2. Leben mit Unsicherheit & Unwissen
Unternehmertum und Management haben nicht erst jetzt sondern immer schon mit der Fähigkeit zu tun, souverän mit Situationen hoher Unsicherheit umgehen zu können. Wie auch mit der Bereitschaft ins Risiko zu gehen, gerade weil man auch als Unternehmer nie alles sicher wissen kann.
Nicht ohne Grund erleben gerade Führungsseminare, Bücher und Vorträge eine Renaissance, die sich damit auseinandersetzen, wie man erfolgreich mit Unsicherheit und Unwissen umgehen kann. Umso erstaunlicher, wie wenig der dabei vermittelten Tipps immer noch in die unternehmerische Praxis Eingang finden.
Statt „souverän agil“ auf die unsichere Umweltsituation zu reagieren, wird in vielen Unternehmen entweder mit operativer Hektik agiert und der Ausnahmezustand zum Normalfall erklärt. Oder aber es werden – häufig parallel zur operativen Hektik – radikale Strategie-, Zukunfts- & Transformationsprojekte initiiert, verbunden mit der Erwartung, dass dabei am Ende eine neue heilsbringende Lösung quasi aus dem Ärmel geschüttelt werden könne.
Dabei ist lange bekannt, dass gerade in hochdynamischen, hochkomplexen Umfeldern ein nachhaltiges stressresistentes Unternehmenskonzept verbunden mit der Fähigkeit zu regelmäßigen adaptiven Strategieanpassungen die erfolgreichste Vorgehensweise darstellt.
Unternehmerische Zukünfte werden immer auch selbst gemacht und nicht nur von außen oktroyiert. Umso wichtiger ist es gerade in der aktuellen Situation die eigene Zukunft proaktiv in die eigene Hand zu nehmen und nicht einfach nur auf die richtige Zukunftslösung von außen zu warten.
3. Überwindung der Saturiertheit
Aller operativer Hektik und diverser Strategieprojekte zum Trotz ist die tatsächliche Veränderungsbereitschaft in vielen Unternehmen jedoch tatsächlich immer noch erstaunlich gering.
So hat jüngst die DIHK in einer Umfrage festgestellt, dass die aktuelle Unsicherheit einen wirklichen Aufbruch in vielen Unternehmen eher verhindert statt fördert.
Ein wichtiger Grund dafür: die Saturiertheit, die v.a. in westlichen Volkswirtschaften, Gesellschaften und Unternehmen eine wirkliche Veränderung verhindert.
Genau in dieser Saturiertheit steckt ein erhebliches Risiko. Gelingt es uns nicht, diese zu überwinden, dann riskieren westliche Unternehmen nicht nur ihre eigene Existenz.
Es droht gar die Grundlage unseres Wohlstands verloren zu gehen und damit die Fähigkeit, auf die vor uns stehenden Herausforderungen wie den Klimawandel trag- und finanzierungsfähige Antworten zu finden.
4. Digitale Souveränität
Wenn wir etwas aus den jüngsten Herausforderungen gelernt haben, dann dass die Digitalisierung ein unerlässliches Instrument ist, um auch unter schwierigen Bedingungen erfolgreich wirtschaften zu können. Anders wäre es nicht zu erklären, dass bspw. deutsche Unternehmen 2020/2021 derart gut durch die Pandemie gekommen sind.
Zum „Zukunft selber machen“ gehört daher unweigerlich auch die Fähigkeit, die eigene Digitalisierung erfolgreich in die Hand zu nehmen. Das betrifft Unternehmen genauso wie die vielzitierte öffentliche Hand.
Auch wenn die Digitalisierung durch die Pandemie einen gewissen Schub erlebt haben, so ist doch festzustellen, dass das bei weitem noch nicht reicht. So ist Deutschland im vergangenen Jahr zwar digitaler geworden, aber eben nur „ein wenig digitaler“, wie das Institut der deutschen Wirtschaft IDW vor kurzem festgestellt hat.
Zeit auch in dieser Hinsicht die eigene Naivität abzulegen und sich von einer falschen und übertriebenen Digitalisierungseuphorie zu verabschieden, die in der Vergangenheit häufig eher in Luftblasenprojekte gemündet ist als in eine nachhaltige digitale Transformation.
Was es stattdessen braucht ist eine aufgeklärte pragmatische Herangehensweise an digitale Themen, die Fehler zulässt und mit einer hohen Lernfähigkeit verknüpft ist.
Wie sehr es daran mangelt, hat gerade hochaktuell der Weggang des Digitalbeauftragten der Stadt München, Thomas Böning, offenbart. In einem Interview mit der SZ legt er schonungslos die Fehler der Münchner Stadtverwaltung im Umgang mit Open Source Projekten offen (die am Ende „sunk cost“ in dreistelliger Mio. € Höhe hervorgerufen haben). Derartige Phänomene findet man nicht nur im öffentlichen Bereich, sondern nach wie vor leider auch in vielen Unternehmen.
Zukunft muss daher auch in digitaler Hinsicht anders gemacht werden, nämlich souveräner, lernfähiger und realistischer, sprich befreiter von oberflächlichen Fantasien genauso wie von überholten Dogmen.
Wann wäre die richtige Zeit, das endlich richtig anzugehen, wenn nicht jetzt.
Packen wir’s an!