Der Corona-Virus gilt gemeinhin als Digitalisierungstreiber. Gleichzeitig zeigen sich in Corona-Zeiten deutliche Digitalisierungsdefizite in Wirtschaft und Verwaltung. Warum digitales Scheitern gut ist und uns weiter voranbringt.
Die Digitalisierung hat durch die Corona-Pandemie stark an Bedeutung gewonnen. Das zeigt eine repräsentative Umfrage des Branchenverbands Bitkom unter 605 deutschen Unternehmen mit 20 oder mehr Mitarbeitern.
Gleichzeitig macht die erwähnte Bitkom-Studie jedoch auch deutlich, dass viele Unternehmen erst durch die Corona-Krise die eigenen Defizite bei ihrer bisherigen Digitalisierung vor Augen geführt werden. Am Ende wachse in Corona-Zeiten die Gefahr, dass die digitale Spaltung in der Wirtschaft weiter zunehme, da nicht alle Unternehmen gleichermaßen in der Lage seien, ihre Digitalisierungsanstrengungen zu intensivieren.
Was für die Wirtschaft gilt, gilt erst recht für Politik, öffentliche Verwaltungen und die Gesellschaft allgemein. Während einige Politiker, öffentliche Institutionen und gesellschaftliche Einrichtungen erstaunlich gut mit den digitalen Herausforderungen in Lock-Down-Zeiten zurechtgekommen sind, hat man in vielen Bereichen in den vergangenen Monaten auch das große digitale Scheitern erlebt.
Wer deshalb gleich laut lamentiert und dem Digitalstandort Deutschland ein schlechtes Zeugnis ausstellt, übersieht eines: Scheitern gehört nicht nur zur Digitalisierung dazu. Es ist sogar essentiell, um wichtige digitale Lernprozesse zu initiieren.
Dies belegt u.a. eine Studie des Beratungsunternehmens Accenture, der zufolge 80 Prozent aller Digitalisierungsprojekte noch in der Pilotphase abgebrochen werden oder nicht erfolgreich sind. Ähnliche Zahlen liefert der Chaos Report, den die Standish Group seit 1994 herausgibt und in dem jedes Jahr mehrere Zehntausend IT-Projekte evaluiert werden. Nur circa ein Drittel davon wird mit Erfolg abgeschlossen, in gut der Hälfte gibt es Probleme und 20 Prozent scheitern demnach komplett.
Scheitern gehört also bei Digitalisierungsprojekten definitiv dazu. Die Frage ist nur, wie man aus den dabei gemachten Fehlern lernt. „Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern“, so formulierte dies der bekannte irische Schriftsteller Samuel Beckett einmal.
Und auch, welche Vorkehrungen man vor vornherein trifft, um genau solche Lernprozesse zu ermöglichen und die Wahrscheinlichkeit totaler Ausfälle zu minimieren.
Genau hierin besteht gerade in Zeiten von Scrum und erhöhter Agilität eine besondere Herausforderung: Gerade komplexe Digitalisierungsprojekte benötigen einer sauberen Vorbereitung, systematischen Konzeption, detaillierten Planung und iterativen Erfolgskontrolle.
Darin, dass das heute quasi nicht mehr notwendig sei und man sich digitalen Lösungen am besten in Form eines kreativen Vorrobbens oder Herantastens nähern könne, besteht vermutlich eines der größten Missverständnisse der Digitalisierung.
Diverse Studien belegen inzwischen, dass hybride Vorgehensweisen, die Ansätze aus der alten Wasserfall-Welt mit Scrum-Elementen verknüpfen, deutlich erfolgreicher sein können als rein agile oder einseitig konservative Methoden.
Das beweisen nicht zuletzt die vielfach zitierten Vorreiter der Digitalisierung wie Amazon, Apple, Google/Alphabet, Tesla etc. selbst. Diese sind viel weniger Helden des kreativen Chaos als Hochleistungsmaschinen, in denen mit hohem Steuerungsaufwand systematisch Innovation betrieben wird.
Und genau in dieser Disziplin, der systematischen Innovation nämlich, sind deutsche Unternehmen ja bekanntermaßen gar nicht so schlecht, sondern sogar ziemlich gut. Durchaus Zeit also, sich auch in Digitalisierungsprojekten einmal auf alte Tugenden zurück zu besinnen. Allemal besser, als nur die inzwischen längst überholte Leier zu wiederholen, im Silicon Valley sei sowieso alles besser.
Nicht ohne Grund verlassen immer mehr Tech-Unternehmen inzwischen Kalifornien. Der Exodus dort hat nicht nur mit überhöhten Mieten, einer schlechten Infrastruktur und Corona zu tun. Er ist letztendlich auch Ausdruck eines gesunden Lernprozesses, demzufolge Digitalisierung heute von überall auf der Welt aus erfolgreich betrieben werden kann. Wenn man dieser mit der richtigen Offenheit wie selbstkritischen Bodenhaftung begegnet.
Anlass genug, das eigene Digital-Setup gerade in Corona-Zeiten einer selbstkritischen Prüfung zu unterziehen und sich zu überlegen, was man in dieser Hinsicht zukünftig besser machen kann oder sogar muss. „Je digitaler ein Unternehmen, desto besser kommt es durch die aktuelle Krise. Deshalb sollten die Digitalisierungsanstrengungen jetzt auf keinen Fall zurückgefahren, sie müssen gerade in der Krise verstärkt werden“, so Bitkom-Präsident Achim Berg im November 2020.
Unternehmen, die sich das für 2021 noch nicht auf die Agenda geschrieben haben, sollten das schleunigst tun.
Wie eine Untersuchung der Beratungsfirm Deloitte jüngst gezeigt hat, liegt es letztendlich an den Unternehmen selbst, wie sie sich auf die Zeit nach Corona vorbereiten. Während sich manche Unternehmen darauf auszuruhen scheinen, dass einige ihrer Wettbewerber durch die Krise vom Markt verdrängt werden, und ansonsten auf Kostenreduzierungen fokussiert sind, planen führende Unternehmen für die Zeit nach der Krise und investieren aktuell massiv in digitale Themen wie neue digitale Geschäftsmodelle und Technologien, digitale Lieferketten und den digitalen Vertrieb.
„In dieser Botschaft steckt eine Chance und zugleich eine Warnung für die Unternehmen, die bislang noch nicht ihre Digitalisierung priorisiert haben. Es ist an ihnen, auf die bereits beschrittenen Wege der digitalen Pioniere einzuschwenken, um weitere finanzielle Nachteile zu vermeiden", so Deloitte im Fazit seiner Studie.
Was digitale „Lame Ducks" von „digitalen Pionieren" unterscheidet, ist nicht zuletzt eine mangelnde Fehlerkultur, was uns wieder zum Ursprungsthema der Vorteile kreativen Scheiterns zurückbringt. Mehr Mut zum Ausprobieren und zu Fehlern gemischt mit systematischen Herangehensweisen ist gerade in schwierigen Zeiten das, was Unternehmen nach vorne bringt.
„Besser scheitern" kann also durchaus eine Voraussetzung für zukünftige Erfolge sein. Insofern man aus unvermeidbaren Fehlern schnell lernt und durch iterative Verbesserungsschleifen die Voraussetzungen dafür schafft, zukünftig weniger digital zu scheitern, sondern gezielt erfolgreich zu sein.
Wer das nicht alleine hinkriegt, sollte sich nicht zu schade sein, dabei externe Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
Kooperationsbereitschaft und die Zusammenarbeit in Netzwerken sind nicht nur Eigenschaften, die für den zukünftigen Digitalisierungserfolg immer wichtiger werden. Sie zählen auch zu den wesentlichen Erfolgsfaktoren, die den deutschen Mittelstand bereits in der Vergangenheit stark gemacht haben.
Eine erfolgreiche Digitalisierung kann daher häufig auch erst dann wirklich beginnen, wenn man sich auf verloren gegangene Tugenden zurückbesinnt und das eigene Phlegma überwindet.