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Minima Moralia

# Das Netz als ethikfreier Raum

Womit wir zum vorletzten Kapitel von d.lead kommen – und damit zu der durchaus provokativ gemeinten Frage, ob es sich bei diesem neuen digitalen Universum nicht nur um einen weitgehend rechts- und ordnungsfreien Raum handeln sollte, sondern auch um einen weitgehend ethikfreien Raum.

Es scheint bequem, sich im Internet endlich einmal nicht mit der Frage auseinandersetzen zu müssen, ob und wie es einem gelingt, ein „richtiges Leben“ zu führen. Befreit von allen moralischen Zwängen kann man dort schließlich heute ganz spielerisch fremde Identitäten annehmen und damit auch andere ethische Kategorien ausprobieren.

Wie schnell und bequem ist es doch geworden, dank der vielbeschworenen „neuen Medien“ heute an scheinbar objektive Informationen zu kommen. Die Menge und Geschwindigkeit, mit der Informationen dabei auf uns einströmen, macht es nur verständlich, dass sich Menschen immer mehr auf bevorzugte Kanäle verlassen und somit oft unbewusst in Kauf nehmen, dass die Informationen dem oben beschriebenen „Echokammereffekt“ zufolge unvollständig, einseitig, redundant oder auch einfach tatsächlich falsch sind.

Wer nimmt sich noch die Zeit, unterschiedliche Zeitungen und Magazine zum selben Thema zu lesen, selbst zu recherchieren, um der Wahrheit näher zu kommen und sich ein Bild zu machen, wenn Facebook oder die Nachrichten eines Privatsenders doch so viel bequemer sind und doch so falsch nicht sein können?

Der Begriff „postfaktisch“ hat es 2016 bei der Gesellschaft für Deutsche Sprache zum Wort des Jahres geschafft. Wie an verschiedenen Stellen dieses Werkes bereits beschrieben, ist Wahrheit allerdings vor allem von der Wahrnehmung abhängig, aber eben auch dem Gegenüber, vom Medium und den Fakten. Doch wer kann denn noch prüfen, was überhaupt wahr ist und wie gehen wir damit um, wenn sich Fakten im Rückblick nachweislich als falsch herausstellen? Dies alles sind grundsätzliche moralische Fragen, deren Erörterung eine wesentliche Bedeutung dafür haben, ob die Digitalisierung nicht nur für Politik und Gesellschaft, sondern auch für die Wirtschaft tatsächlich einen positiven Beitrag liefert oder nicht.

Umso erstaunlicher ist, wie sehr sich konservative Neoliberale wie Links-Intellektuelle häufig in der Betonung einer strikten Netzfreiheit einig sind und dabei gleichermaßen übersehen, dass auch die digitale Welt nicht ohne ein Mindestmaß an Ethik auskommt.

„Wir brauchen dringend eine digitale Ethik im Sinne einer kritischen Reflexion über ein gelingendes digitales Leben.“ d.lead

Digitale Ethik im Sinne einer kritischen Reflexion über ein gelingendes digitales Leben ist nämlich alles andere als überflüssig. Gerade, weil in Zeiten der Digitalisierung die Grenzen zwischen dem einzelnen Subjekt und technischen Objekten zunehmend verschwimmen, ist es umso wichtiger, neue ethische Fragen zu stellen und zu beantworten. Um mit dem Informationswissenschaftler und Philosophen Rafael Capurro zu sprechen:

„Was mit der Digitalisierung und insbesondere mit der digitalen Weltvernetzung seit zwanzig Jahren stattfindet, ist eine neue anthropologische und kulturelle globale Revolution, die sich in atemberaubendem Tempo ausbreitet. So wie der neuzeitliche europäische Mensch sich als Subjekt konstituierte, so verstehen wir uns (heute) (...)  paradox ausgedrückt, als vernetzte Subjekte und Objekte.“

Dadurch verändert sich automatisch auch die Frage nach Freiheit und Autonomie. „Wieweit und aus welchen Gründen will ich meine Freiheit und Selbstverantwortung an einen Algorithmus delegieren? Wann und für wen ist diese Fremdbestimmung eine gute Entscheidung? Wann sollte ich auf sie verzichten und selber die Zügel in die Hand nehmen? Wann ist es sinnvoll für mich und/oder für andere uns führen und fahren zu lassen?“

Dass die Beantwortung derartiger Fragestellungen auch für eine funktionierende Wirtschaft wichtig ist, zeigen die folgenden zwei Beispiele anschaulich auf.

# Autonomes Fahren

Autonomes Fahren bietet nicht nur in technischer Hinsicht und Fragen der Convenience viele wichtige Neuerungen. Auch in Fragen der Umwelteffizienz hat vernetzter Verkehr viele Vorteile. Gleichzeitig sind damit jedoch einige ethische Dilemmata verbunden. Was passiert etwa, wenn ein autonomes Fahrzeug eine Gefahrensituation (z.B. Kinder auf der Straße) entdeckt und gegensteuert. Auf Grundlage welcher Algorithmen entscheidet dieses Fahrzeug dann? Und wer hat die Algorithmen programmiert?

Wer diese Dilemmata betrachtet, dem wird schnell klar, dass man hierfür einige grundlegende ethische Abwägungen zugrundelegen muss, z.B. die, dass bei der Unfallvermeidung alle Menschengruppen gleich zu behandeln sind (oder sollte etwa das Fahrzeug bei einem alten Mann auf der Straße anders reagieren als bei einer Gruppe von Kindern)?

Dass die dabei zutreffenden Antworten keinesfalls trivial sind, zeigt nicht zuletzt die jüngste Gesetzesinitiative zum „autonomen Fahren“ auf. „Per Gesetz wollte Verkehrsminister Dobrindt dem automatisierten Fahren den Weg ebnen. Doch statt Rechtssicherheit schaffen seine Pläne, die das Kabinett heute beschließt, Unsicherheit für die Verbraucher“, so Daniel Delhaes vor Kurzem im Handelsblatt.

Das Problem der Gesetzesvorlage: „Laut dem aktuellen Entwurf ist der Fahrer ‚verpflichtet, die Fahrzeugsteuerung unverzüglich wieder zu übernehmen’ – wenn das System ihn dazu auffordert oder der Fahrer erkennt, dass es Probleme mit dem System gibt. Wann das der Fall ist und wann Fahrer oder Hersteller haften, bleibt unklar, sicher aber muss der Fahrer die Bedienungsanleitung studieren, also die Grenzen des Systems ‚beherrschen und beachten’ und die Kontrolle übernehmen, auch wenn ihn das System dazu nicht auffordert, wie es in der Gesetzesbegründung heißt. Im Klartext: Der Fahrer trägt im Zweifel immer die Verantwortung.“

Das ist sicherlich keine auf Dauer tragfähige Lösung. Man beneidet den Verkehrsminister nicht, um die Schaffung einer wirklich tragfähigen Lösung, die sowohl endverbraucher- als auch industrietauglich ist. Das bedeutet allerdings auch nicht, dass man sich mit derartigen Scheinlösungen, die de facto keine sind, begnügen sollte. Gefragt sind vielmehr Regelungen, welche die damit verbundenen Dilemmata berücksichtigen und dennoch Klarheit für alle Beteiligten schaffen.

# Big Data

Auch im Umgang mit den zunehmenden Datenmengen gibt es solche Dilemmata. Tatsächlich bietet Big Data viele Chancen für die Bewältigung ziviler Herausforderungen:

„As more data become less costly and technology breaks barriers to acquisition and analysis, the opportunity to deliver actionable information for civic purposed grows. This might be termed the 'common good' challenge for big data”, so Jake Porway von der Firma DataKind.

So ermöglicht beispielsweise der Einsatz von großen Datenmengen erhebliche Fortschritte in der Medizin, etwa bei individuell abgestimmten Krebstherapien, die sich auf Basis von Big Data gezielter optimieren lassen.

Gleichzeitig sind mit der Weitergabe solcher Daten jedoch auch erhebliche Risiken verbunden, z.B. dann wenn diese Rückschlüsse auf konkrete Personen als Datenurheber zulassen. Werden diese Daten dann durch Dritte (Arbeitgeber, Versicherungen, Medien, Öffentlichkeit) missbraucht, kann dies im Extremfall eine erhebliche Einschränkung individueller Freiheitsräume bedeuten.

„Es muss uns klar sein, dass Big Data, wie jedes andere Werkzeug, für gute und schlechte Zwecke eingesetzt werden kann. (...) Es ist wichtig, dass sich alle, die aus Big Data einen Mehrwert schöpfen, ihrer moralischen Verantwortung bewusst sind“, so die beiden Wissenschaftler Andrej Zwitter und Roberto Zicari jüngst in der Zeitschrift „Spektrum der Wissenschaft“.

Die beiden Wissenschaftler haben vor diesem Hintergrund gemeinsam mit anderen Wissenschaftler die Initiative Data for Humanity“ ins Leben gerufen, mit dem Ziel, einen Ehrenkodex für die nachhaltige Verwendung von Big Data zu verbreiten.

Diese Initiative vertritt fünf ethische Grundprinzipien für Big-Data-Akteure in den Wissenschaften, die auch für Unternehmen wegweisend sein können:

  1. Do no harm. Der digitale Fußabdruck, den heute jeder zurücklässt, schafft eine gewisse Transparenz und Vulnerabilität von Individuen, sozialen Gruppen und der Gesellschaft als Ganzes. Man darf durch die Arbeit mit Big Data und den Einsichten, die sie gewähren, Dritten keinen Schaden zufügen.
  2. Verwende Daten so, dass die Ergebnisse die friedliche Koexistenz der Menschen unterstützen. Die Selektion von Inhalt und der Zugang zu Daten beeinflusst das Weltbild der Gesellschaft. Eine friedliche Koexistenz ist nur möglich, wenn sich Datenwissenschaftler ihrer Verantwortung für einen gerechten und unverzerrten Datenzugang bewusst sind.
  3. Verwende Daten, um Menschen in Not zu helfen. Innovationen im Bereich von Big Data können neben einem wirtschaftlichen meist auch einen gesellschaftlichen Mehrwert erzeugen. Im Zeitalter der globalen Konnektivität resultiert aus der Fähigkeit, mit Big Data Innovationen zu schaffen, die Verantwortung, Menschen in Not zu unterstützen.
  4. Verwende Daten, um die Natur zu schützen und die Umweltverschmutzung zu reduzieren. Eine der großartigen Leistungen von Big-Data-Analytics ist die Entwicklung von effizienten Abläufen und Synergieeffekten. Nur wenn dies auch zur Schaffung und Erhaltung einer gesunden und stabilen Umwelt eingesetzt wird, kann Big Data eine Nachhaltigkeit für Wirtschaft und Gesellschaft bieten.
  5. Verwende Daten, um Diskriminierung und Intoleranz zu beseitigen sowie ein faires Zusammenleben zu schaffen. Soziale Medien verursachen eine verstärkte, globale Vernetzung. Eine solche kann nur zu langfristiger globaler Stabilität führen, wenn sie auf den Prinzipien von Fairness, Gleichheit und Gerechtigkeit aufgebaut ist.

# Eine neue Kultur der digitalen Achtsamkeit

Die beiden obigen Beispiele zum autonomen Fahren und zur Verwendung von Big Data zeigen, dass die Digitalisierung nicht zwangsläufig eine Abwesenheit jedweder Auseinandersetzung mit ethischen Themen bedeuten muss.

Unserer Meinung nach sollte sogar ganz bewusst eine solche Ethik der digitalen Achtsamkeit entwickelt werden, wenn man verhindern will, dass digitale Technologien nicht zum Schaden anderer missbraucht werden.

„Wir brauchen eine neue Kultur der digitalen Achtsamkeit und zwar in Politik und Gesellschaft genauso wie in der Wirtschaft und in jedem einzelnen Unternehmen.“ d.lead

Dass es eine solche Kultur der digitalen Achtsamkeit so schwer hat, sich in der Welt von heute durchzusetzen, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die von uns bereits in Kapitel 3 beschriebene starke Fixierung auf den Erfolg in digitalen Zeiten nicht abgenommen, sondern zugenommen hat. Gerade in digitalen Umfeldern erscheint vor allem das erstrebenswert, was wirtschaftlichen Erfolg verspricht, unabhängig davon, wie groß der soziale und kulturelle „collatoral damage“ dabei auch sein mag.

Erfolg ist jedoch vor allem eine Output-Variable, nicht Input-Variable. Wer erfolgreich sein will, kann dies auf Dauer daher auch nur in einem Umfeld sein, in dem nicht nach Wildwestmanier im Prinzip alles erlaubt ist und in dem einem nicht permanent der Boden unter den Füßen weggezogen wird, sondern in dem es noch ethische Grundprinzipien gibt, die für jeden gelten.

# Alles fängt bei einem selbst an

Auch in moralischer Hinsicht fängt also jede Veränderung bei einem selbst an. Es liegt in unserer Hand, ob das eigene Land, das eigene Unternehmen, die eigene Abteilung, die Herausforderungen der Digitalisierung meistert oder nicht. Es liegt in unserer Hand, ob die digitale Welt tatsächlich unser Leben einfacher, sicherer und lebenswerter macht oder eben nicht. Und es liegt in unserer Hand, ob wir ganz persönlich mit den Herausforderungen der Digitalisierung zurechtkommen oder nicht.

Einige digitale Evangelisten setzen ihre moralischen Hoffnungen dabei verstärkt auf ein entsprechendes wachsendes ethisches Interesse der nachwachsenden Generationen Y+Z. Diese agieren zwar in mancher Hinsicht (z.B. beim Fleischkonsum) ethikbewusster, als es die Generation X zum Teil getan hat. Andererseits tun sie es aber auch nicht.

Gerade in Fragen der Digitalisierung, lässt sich eine solche ethische Komponente – jenseits des Strebens nach mehr Selbstverwirklichung und danach, im eigenen Tun einen höheren Sinn erkennen zu wollen – jedoch nicht immer erkennen: Alles im Internet zu bestellen und den Lieferwagen gleich mehrfach am Tage bei sich vorbeikommen zulassen, damit haben viele Gen-Yler und Gen-Zler kaum ein Problem, auch wenn sich der „Carbon Footprint“ dadurch nachweislich verschlechtert.

Auch im Umgang mit den eigenen Daten, mit Shitstorming im Internet und anderen digitalen Phänomenen haben die nachwachsenden Generationen einen z.T. doch erstaunlich unkritischen Umgang, der nicht unbedingt auf ein verstärktes ethisches Bewusstsein dieser Generationen hoffen lässt.

Wir, die wir der Gen X angehören, müssen uns allerdings fragen lassen, ob wir es früher besser gemacht haben (oder gar aktuell besser machen): Ein ausgeprägtes Karrierestreben, stark monetär geprägte Interessen, über die Jahre entwickelte und häufig zur Perfektion getriebene Überlebensstrategien in den Haifischbecken von Unternehmen ... Es ist verständlich, dass all dies nur eine geringe Orientierung für nachwachsende Generationen bieten kann.

Grundlage für einen ethischen besseren Umgang mit der Digitalisierung ist unseres Erachtens daher auch weniger der Blick auf die jeweils anderen, sondern auf uns selbst.

Nur wer lernt, gerade in digitalen Zeiten gleichermaßen wertsensibel wie offen, agil und souverän mit dem eigenen Ich umzugehen, kann auch andere nach diesen Prinzipien führen und ein ethisches Handeln in digitalen Zeiten fördern.

Manager, die ihre Smartphones am Wochenende auch mal ausstellen. Chefs oder Chefinnen, die ein persönliches Mitarbeitergespräch auch mal zu Ende führen können, ohne dabei ständig ihre Mails zu checken. Unternehmen, die um die Wahrung digitaler „Intimsphären“ bei ihren Mitarbeitern und Kunden bemüht sind. Kollegen, die nicht ständig alle anderen Kollegen auf die Verteiler ihrer E-Mails setzen ... All dies sind Wesensmerkmale einer Kultur der digitalen Achtsamkeit, wie wir sie meinen.

# Die Überwindung der Eitelkeit

Die vielleicht schwierigste Herausforderung, die Manager im Zeiten der Digitalisierung in persönlicher und moralischer Hinsicht meistern müssen, ist, den richtigen Umgang mit der eigenen Eitelkeit zu finden.

In ihrem bereits 1998 erschienen Buch Eitelkeit im Management: Kosten und Chancen eines verdeckten Phänomens haben der damalige Vorsitzende der Geschäftsführung des Österreichischen Instituts für Sparkassenwesen, Horst Groß und der Klagenfurter Universitätsprofessor Dr. Ewald E. Krainz an zahlreichen Beispielen deutlich gemacht, wie Führungskräfte durch ihre eigene Eitelkeit nicht nur immer wieder zu falschen Entscheidungen verleitet wurden, sondern auch, was das für ihre Mitarbeiter bedeutet.

Gerade in digitalen Zeiten wird eben dieser Eitelkeit allerdings immer häufiger und schneller der Boden entzogen. Das Tempo und die Breite der Innovation ermöglicht es einfach nicht mehr, dass sich einzelne Personen an der Spitze von Unternehmen für unersetzbar halten und Mitarbeiter, welche Innovationen im Unternehmen vorantreiben sollen und müssen, mit der eigenen Eitelkeit vor den Kopf stoßen.

Hierzu passt das Ergebnis einer Befragung, welche die Beratungsgesellschaft Korn Ferry jüngst bei 800 Spitzenmanagern durchgeführt hat. Bei dieser Befragung gaben 2/3 der Führungskräfte (64%) an, dass Menschen in erster Linie ein Kostenfaktor und kein Vermögenswert seien. Noch mehr Manager (67%) waren überzeugt, dass Technologie für sie in Zukunft mehr Ertrag schaffen würde als Humankapital. Außerdem gaben 40% der Manager an, seitens der Aktionäre unter Druck zu stehen, Mitarbeiter durch Maschinen zu ersetzen.

Ein solches Urteil ist jedoch nicht nur in moralischer Hinsicht fragwürdig. „Bisherige Erfahrungen mit Robotern und Künstlicher Intelligenz zeigen, dass die Systeme oft betreuungsintensiv sind, vom Faktor Vertrauen der Kunden in die Marke ganz zu schweigen“, so Daniel Eckert und Holger Zschäpitz zu dieser Studie in der WELT. Ähnlich äußerst sich dort Carsten Brzeski, Chefökonom der ING DiBa: „Berechnung hin oder her, der Wert von Humankapital ist nicht zu vernachlässigen.“ Letztendlich seien es Menschen, die Maschinen und Prozesse entwickeln müssten.

Es sind jedoch nicht nur die eigene Eitelkeit und ein fragwürdiges Menschenbild, die aus moralischer Hinsicht fragwürdig sind. Auch eine falsch verstandene, weil häufig nur vorgetäuschte „Vornehmheit“, die in vielen Führungsetagen in der Vergangenheit ein fröhliches Wechselspiel mit eben dieser Eitelkeit gefeiert hat, stößt in digitalen Zeiten mehr und mehr an ihre Grenzen. Die Schnelligkeit und Ubiquität des Wandels verlangt nach neuen Formen der Offenheit und Ehrlichkeit im Umgang miteinander.

Diese Offenheit und Ehrlichkeit ist umso wichtiger, da man in den Zeiten von „fake news“, „alternative facts“ und einem erneuten Abfeiern „der Kunst des Deals“ (Donald Trump) leicht versucht ist, an das Gegenteil zu glauben.

Wie Lars Sudmann jüngst anhand einer Fake-Geschichte deutlich gemacht hat, die in Business-Netzwerken wie LinkedIn breit geteilt wurde, gibt es schließlich auch in der Wirtschaft die Tendenz, angeblichen Tatsachen zu folgen, ohne diese kritisch zu überprüfen.

„We see that the concept of ’post-truth’ doesn’t stop at politics – it’s also present in the realm of leadership and management.“ Lars Sudmann, Business Advisor

Der Präsident des Sparkassenverbandes, Georg Fahrenschon, spricht im Handelsblatt sogar ganz offen von einer „Filter Bubble“, in der sich viele Firmenlenker befänden.

Umso mehr stellt sich im „trumpschen Zeitalter“ die Frage: Ist man nicht eigentlich schlauer, weil erfolgreicher, wenn man auch in digitalen Zeiten seine Mitarbeiter, Kunden und Geschäftspartner unter Druck setzt und mit falschen Nachrichten versorgt wie Donald Trump dies aktuell vormacht?

Der deutsche Verwaltungsjurist, Matthias Schranner, der früher mit Geiselgangstern verhandelt hat und heute Unternehmen in Fragen der Verhandlungsführung berät, lobt jedenfalls das postfaktische Verhandlungsgeschick von Trump: „Damit hat er sein Gegenüber dort, wo er es haben will. Auch deutsche Medien sind gut darin, alles zu glauben, was er sagt – und daraus dann zu schlussfolgern, dass Trump spinnt. Ich glaube nicht, dass er spinnt. Zu den Stärken eines guten Verhandlers gehört die Unberechenbarkeit. Trump ist unberechenbar. So schafft er sich Spielräume für anstehende Gespräche.“

Kurzfristig mag das richtig sein und natürlich gibt es Situationen, in denen taktisches Vorgehen und die Verfolgung einer druckvollen Strategie für den Erfolg der eigenen Sache unerlässlich sind. Damit dieser Erfolg jedoch langfristig währt, ist man – in wirtschaftlichen, politischen wie gesellschaftlichen Umfeldern – gut beraten, andere weder vor den Kopf zu stoßen, noch mit falschen Tatsachen hinters Licht zu führen. Gerade europäische, aber auch viele transatlantische Unternehmen verdanken ihren Erfolg den vertrauensvollen Beziehungen, die sie zu ihren Mitarbeitern, Kunden und Geschäftspartnern häufig über Jahrzehnte hinweg aufgebaut haben.

„I can tell you (...) that this is a job of such magnitude that you can't do it by yourself. You are enormously reliant on a team.“ Barack Obama

Barack Obama hat mit Blick auf die Eigenart seines Nachfolgers Donald Trump, zu Alleingängen zu neigen, übrigens darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, sich gerade in verantwortungsvollen Positionen nicht einfach nur auf sich selbst zu verlassen. Wer das missachtet, wird schnell von der Realität bestraft: „I can tell you (...) that this is a job of such magnitude that you can't do it by yourself. You are enormously reliant on a team. (...) And as I indicated in some of my previous remarks, reality has a way of biting back if you're not paying attention to it.“

Das ist in digitalen Zeiten nicht anders, mit dem einen aber feinen Unterschied: Man ist dort wegen der Komplexität und Schnelligkeit der Entwicklung noch mehr gut beraten, auf ein starkes Team zu setzen als schon zu analogen Zeiten. Hinzu kommt, dass das oben erwähnte Vertrauen in digitalen Umfeldern viel schneller und immediater aufgebaut werden muss als in analogen. Es kann dort allerdings auch viel schneller verspielt werden. Umso mehr empfiehlt es sich, vorsichtig damit umzugehen.

Dass mit dieser Überwindung der eigenen Eitelkeit und einer neuen Kultur der Ehrlichkeit, der Offenheit und des Vertrauens tatsächlich eine moralische Dimension verknüpft ist, hat Burkard Sievers, Professor an der Bergischen Universität Wuppertal, in einem Grundsatzbeitrag zur Rolle von Managern sehr schön dargestellt. Aus seiner Sicht verführt die eigene Eitelkeit nicht wenige Führungskräfte dazu, sich unterbewusst auch in moralischer Hinsicht den Mitarbeitern übergeordnet zu fühlen und diese daher in einer Abhängigkeits- und Entmündigungskultur zu halten.

„Individuell wie kollektiv haben wir daher darüber zu entscheiden, ob wir Management in erster Linie als ein Instrument der Perpetuierung einer Abhängigkeitskultur (...) und der Entmündigung von Menschen verstehen oder ob wir darin die grundlegende Fähigkeit des Menschen sehen wollen, sich selbst in seinen organisatorischen Arbeitsrollen zu managen. Letzteres hieße allerdings, das bisherige Managementverständnis vom Kopf auf die Füße zu stellen.“

„Richtig umgesetzt kann die Digitalisierung helfen alte Abhängigkeits- und Entmündigungskulturen hinter sich zu lassen.“ d.lead

Das Gute an der Digitalisierung ist, dass sie uns aufzeigt, dass diese „Abhängigkeits- und Entmündigungskulturen“ mehr und mehr an ihre Erfolgsgrenzen stoßen. Das wiederum ermöglicht es uns, eine ehrliche Auseinandersetzung darüber zu führen, welches Menschenbild unserem Zusammenarbeiten und Zusammenleben eigentlich zugrunde liegt und ob wir dieses, jenseits der reinen Erfolgsfrage, nicht grundsätzlich verändern müssen.

# Minima Moralia

Eine digitale „Minima Moralia“ fängt also bei einem selbst an. Immanuel Kant hat 1785 mit seinem kategorischen Imperativ bereits anschaulich aufgezeigt, wie eine solche Minima Moralia aussehen kann.

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Übersetzt wird dies häufig mit der Maxime, andere Menschen nur so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte.

„Sei das Unternehmen, in dem Du selbst gern arbeiten möchtest.“ d.lead

Überträgt man das Kantsche Prinzip der „minima moralia“ auf die Tätigkeit des „Führens“ in digitalen Zeiten, dann lässt sich dieses auch folgendermaßen ausdrücken: „Sei das Unternehmen, in dem Du selbst gern arbeiten möchtest.“

Damit ist nichts Anderes gemeint, als dass man seine Mitarbeiter, seine Kollegen, seine Kunden und Investoren und alle anderen Stakeholder gerade in digitalen Zeiten, die mit erhöhter Turbulenz und Unsicherheit verbunden sind, genauso behandeln sollte, wie man das gern selbst für sich in Anspruch nehmen möchte.

Mehr noch: Wer gerade in digitalen Zeiten Veränderungen in der eigenen Unternehmenskultur will, muss damit zunächst einmal bei sich selbst anfangen. Nur wer dabei Werte wie Offenheit, Vertrauen, Agilität und Souveränität aktiv vorlebt, kann von anderen erwarten, dass auch sie diese umsetzen.