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Sense Making

# Wie Sinn entsteht

Warum sind Sinn, Sinnfindung bzw. Sinnstiftung so wichtige Faktoren gerade in Transformationsprozessen? Und wie sorgt man als Führungskraft dafür, dass die eigenen Mitarbeiter die Möglichkeit haben, für sich einen Sinn abzuleiten?

Was die erste Frage betrifft, reicht es eben nicht aus, nur die Strategien, Strukturen, Prozesse und Produkte zu verändern oder eine gute Unternehmenskultur zu schaffen, damit die digitale Transformation in trockenen Tüchern ist. Das haben die verschiedenen Beispiele in den vorangegangenen Kapiteln in diesem Werk bereits aufgezeigt.

Die Generationen X, Y, Z ff. wollen mit ihrer Arbeit einen sinnvollen Beitrag leisten. Starke Teams brauchen daher eine Ausrichtung auf eine gemeinsame Vision. Viele haben das bereits verstanden und diesbezüglich viel Arbeit investiert: große PowerPoint-Präsentationen erstellt, Workshops organisiert und eine großangelegte interne Medienkampagne, vom Intranet über Poster etc. aufgesetzt. Doch auch das verfehlt oft seine Wirkung.

Um zu verstehen, warum das so ist, lohnt es, noch einmal einen genaueren Blick darauf zu werfen, was unter „Sinn“ und „Sinnfindung“ überhaupt zu verstehen ist.

Mit dem Begriff „Sinn“ verbindet man zum einen ganz grundsätzlich die Fähigkeit etwas wahrzunehmen und zu empfinden. Darüber hinaus steht der Begriff des Sinns für die Fähigkeit des Menschen, seine Sinneseindrücke richtig einordnen zu können und somit den Dingen, die um ihn herum geschehen, eine „Bedeutung“ zu geben.

Unter Sinnfindung ist dem amerikanischen Organisationspsychologen Karl E. Weick zufolge ein Prozess zu verstehen, „mit dem Menschen den über die Sinne ungegliedert aufgenommenen Erlebnisstrom in sinnvolle Einheiten einordnen. Je nach Einordnung der Erfahrung kann sich ein unterschiedlicher Sinn und damit eine andere Erklärung für die aufgenommenen Erlebnisse ergeben.“

„Mitarbeiter suchen heute mehr denn je Sinn in ihrer Arbeit. Nur wenn sie den Dingen, die sie tun, eine Bedeutung beimessen können, ist diese für sie wirklich sinnvoll.“ d.lead

Dass gerade in digitalen Zeiten Mitarbeiter ihr eigenes Tun stärker denn je in einen übergeordneten Erlebnisstrom einzuordnen versuchen, sollte dabei nicht verwundern. Dieser Erlebnisstrom ist nicht nur ungemein intensiv geworden, sondern eben auch herausfordernder, was den Wunsch nach einer Einordnung des eigenen Tuns in diesen Erlebnisstrom eher erhöht, denn mindert. Die Konsequenz daraus: Mitarbeiter suchen heute mehr denn je einen Sinn in ihrer Arbeit. Nur wenn sie den Dingen, die sie tun, eine Bedeutung beimessen können, ist diese auch für sie sinnvoll.

Wie Karl E. Weick aufgezeigt hat, entsteht Sinn dabei selten im stillen Kämmerlein. Da wir als Menschen soziale Wesen sind, ist Sinn vielmehr das Ergebnis sozialer Interaktionen, ein Prozess den Weick als „Sensemaking“ (englisch für Sinn erzeugen) bezeichnet hat und der immer „sozial und systemisch“ abläuft.

Ein Beispiel von vielen, das zeigt, wie wichtig die Berücksichtigung solcher sozialen Interaktionsprozesse für die Sinnfindung in Unternehmen sind, liefern die Befragungen von Mitarbeitern in Unternehmen. In den von uns durchgeführten Kulturbefragungen, taucht selbst bei so scheinbar einfachen Begriffen wie „Ehrlichkeit“, „Vertrauen“, „Fairness“ sehr schnell die Frage auf, was damit eigentlich gemeint ist.

Wenn diese Fragen nicht verhandelt und geklärt, die Begriffe nicht mit Bedeutung und einer Emotion versehen werden, sind sie reine Daten auf Papieren und Plakaten. Es geht gar nicht darum, um ein absolut identisches Bild zu ringen, es ist eher der Prozess, der eine emotionale Verankerung erlaubt.

Somit ist die Erkenntnis, dass wir den Dingen unterschiedliche Bedeutung zuschreiben, nicht nur ein akzeptables, sondern ein großartiges Ergebnis. Denn das ist ein Schritt in Richtung Klarheit, dass es eine objektive Wahrheit eben ohnehin nicht gibt. Diese Erkenntnis sollte uns sorgsamer und austauschfreudiger werden lassen, statt anzunehmen, dass die Anderen schon verstehen werden, was wir meinen.

# Sensemaking in Organisationen

Nicht nur der Einzelne, auch Organisationen, Unternehmen, Institutionen sind jeden Tag aufs Neue mit der Herausforderung des „Sensemakings“ konfrontiert. Warum ist das so?

Nun, zum einen, weil sie sich naturgemäß aus sehr unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Werten, Erwartungen, Erfahrungen, Vorstellungsmustern und Zielen zusammensetzen.

Um hier zum einem konzertierten Handeln zu kommen, braucht man koordinierte Prozesse, die immer wieder aufs Neue ermöglichen, Aufgaben, Herausforderungen und Ziele sinnvoll einordnen zu können.

Dieser Prozess verläuft dabei meist nicht isoliert, sondern wird in unterschiedlichsten Organisationen wie z.B. Unternehmen, Behörden, Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten etc. zwischen verschiedenen Menschen ausgehandelt.

Um es in einem Satz zu sagen: Wer wir sind und wie wir uns selbst verstehen, hängt zum großen Teil auch von anderen ab.

Selbst in solchen Organisationen, in denen Strategien und Entscheidungen den Menschen eher vor die Nase gesetzt als gemeinsam im Team erarbeitet werden, finden regelmäßig solche sozialen Prozesse der Bewertung und Aushandlung statt, bis dahingehend, dass bestimmte Strategien und Entscheidungen im Ergebnis für die Beteiligten eben keinen Sinn ergeben, weil sie sich nicht sinnvoll in den eigenen Erlebnisstrom einordnen lassen.

Selbst das muss nicht zwangsläufig zu Misserfolgen führen, solange die Kultur im Unternehmen es zulässt, dass Fehleinschätzungen im Management rasch korrigiert werden können und Freiräume für die Mitarbeiter bestehen, eigene Lösungswege zu definieren.

# Komplexitätsreduktion

Sinn hat also immer etwas mit Komplexitätsreduktion zu tun. Nur indem man die Dinge einordnet, bewertet, kann man mit der Vielzahl der Möglichkeiten umgehen, die einem das Leben bietet.

„Sinn ist laufendes Aktualisieren von Möglichkeiten.“ Niklas Luhmann

Niklas Luhmann hat Sinn ganz in diesem Sinne daher auch einmal als „laufendes Aktualisieren von Möglichkeiten“ und die temporäre Reduktion dieser Möglichkeiten auf ein erträgliches Maß durch die Herstellung von „Anschlussfähigkeit“ bezeichnet.

Gerade in digitalen Umfeldern, in denen – wie oben beschrieben – immer stärker das Gesetz des „immer mehr“, „immer schneller“ gilt, braucht es zwingend notwendig solche Prozesse der Herstellung von Anschlussfähigkeit und damit Sinnstiftung durch Komplexitätsreduktion.

Sinn herzustellen, zu erfahren und immer wieder neu zu rekonstruieren, ist schließlich eine genuin menschliche Notwendigkeit. Wem das nicht gelingt, dem fällt es nicht nur schwer, sich zu orientieren. Mitunter resultieren daraus auch erhebliche psychopathologische Störungen.

# Sinnstiftung in Zeiten der Digitalisierung

Natürlich ist Sensemaking kein Phänomen, das ausschließlich in digital ausgerichteten Organisationen Bedeutung besitzt. Es gibt jedoch einige gewichtige Argumente, warum „Sensemaking“ gerade in Zeiten der Digitalisierung immer wichtiger wird, worunter die folgenden drei Aspekte sicherlich besonders wichtig sind.

1. Verstärkte Sinnorientierung

Werte wie „etwas Sinnvolles tun zu wollen“, „einen Sinn in der eigenen Arbeit erkennen zu können“, „sich selbst verwirklichen zu dürfen“ gehören heute zu den am meisten geäußerten Wertezielen bei Mitarbeiterbefragungen. Das war vor einigen Jahren noch etwas anders, als Mitarbeiter noch deutlich eher bereit waren, sich für ihren Job aufzuopfern, selbst wenn dieser für sie nur bedingt einen Sinn ergeben hat. Hierbei gibt es neben dem bereits beschriebenen Wertewandel durchaus einen Bezug zur Digitalisierung. Je mehr sich nämlich in den digitalen Arbeits- und Lebenswelten von heute die Möglichkeitsräume der Menschen vergrößern, umso mehr scheint es notwendig, dass dieser Möglichkeitsraum sinnvoll reduziert werden kann.

2. Erhöhte Unsicherheit

Hinzu kommt, dass in Zeiten der Digitalisierung die allgemeine Unsicherheit deutlich zugenommen hat. Je häufiger, schneller und grundsätzlicher sich Dinge verändern, umso schwieriger ist es, die oben beschriebene Einordbarkeit und Anschlussfähigkeit noch ganz individuell hinzubekommen und daher einen Sinn in den Dingen zu erkennen. Kein Wunder, dass das dann erst recht für Unternehmen immer schwieriger wird, wenn das selbst der Einzelne immer weniger hinbekommt.

3. Tatsächliche Veränderungsnotwendigkeit

Ein dritter wichtiger Grund ist schließlich in der Tatsache zu sehen, dass die Notwendigkeit ganz grundsätzlicher Kursänderungen in Unternehmen in Zeiten der Digitalisierung deutlich gestiegen ist. Wer etwa durch neue disruptive Geschäftsmodelle in seinem Kerngeschäft fundamental betroffen ist, für den bedeutet die digitale Transformation tatsächlich etwas anderes, als „nur“ das Zurechtkommen mit einer zunehmenden Alltagsdynamik und Komplexität. Sie wird zur Überlebensfrage. Dann heißt es wirklich schnell und beherzt zu handeln, alte Zöpfe konsequent abzuschneiden, Dinge von heute auf morgen auch einmal ganz anders zu machen als bisher.

Auch hier ist Empathie gefragt: Wir überfordern Mitarbeiter oft, indem wir annehmen, dass diese die Entwicklungen doch in der Presse verfolgen würden und wüssten, was am Markt gerade los ist. Außerdem verfügt das Topmanagement über Informationen und Hintergründe, die manche Entscheidungen selbst für die nächste Führungsebene bereits nicht mehr selbstverständlich nachvollziehbar machen. Gerade unter solchen Voraussetzungen, aber nicht nur dort, ist es wichtig, dass Mitarbeiter verstehen, warum die Digitalisierung für die eigene Arbeit wichtig ist und in welche Richtung sich das eigene Unternehmen in dieser Hinsicht tatsächlich bewegt.

„Working with liquid structures creates a new need for a sustainable and long-term working identity“ PD Dr. Guido Wolf, Universität Duisburg-Essen

Je „liquider“ die Strukturen am Markt, im Unternehmen und im eigenen Team werden, umso stärker werden naturgemäß die Fragen, was das tatsächlich für einen selbst bedeutet.

„Looking at the process of digital transformation, we discover a new dynamic of markets. Digital transformation affects the entire organization. Today, organizations have to speed up their ability to rapidly change if they want to find successful answers to the challenges of Industry 4.0, the Internet of Things and Big Data. However, working within liquid structures creates a new need for a sustainable and long-term working identity. In consequence, people start asking about the new persistent idea of their specific organization. Where are we going? Which principles and values do we share? How is the big idea linked with my daily work?“ (Guido Wolf).

# Where are we going?

Was sollte man vor diesem Hintergrund tun? Wie können wir in Zeiten permanenter Veränderungen und digital disruptiver Sprünge Antworten auf diese Fragen zu finden, und zwar so, dass diese für die Mitarbeiter, aber auch die Stakeholder, die Kunden, den Markt tatsächlich einen Sinn ergeben?

Aus unserer Sicht sind vor allem die folgenden zehn Punkte dabei zu beachten:

1. Sicherheit

Wer Mitarbeiter gerade in Zeiten erhöhter digitaler Unsicherheiten mit auf die Reise nehmen will, muss ihnen vor allem eines bieten: Das Gefühl von Sicherheit. Nur wenn man den Mitarbeitern vermittelt, dass sie auch in Zukunft einen sicheren Arbeitsplatz besitzen werden, dass ihre Kompetenz auch in Zukunft gefragt (wenn auch eventuell an anderer Stelle als bisher), dass sie an der Transformation des eigenen Unternehmens aktiv mitarbeiten können und sollen, dann kann man auch erwarten, dass sie diese Reise mitmachen. Das bedeutet selbstverständlich keinesfalls Sicherheit um jeden Preis. Mitarbeiter müssen und sollen ja in einem erfolgreichen Transformationsprozess erkennen, dass nicht nur das Unternehmen und der Markt sich weiterentwickeln müssen, sondern auch sie selbst.

2. Nachvollziehbarkeit

Wenn die Notwendigkeit oder gar Unausweichlichkeit von Digitalisierungsprojekten den Mitarbeitern nicht verständlich gemacht wird oder für diese nicht nachvollziehbar ist und für sie somit keinen Sinn ergibt, darf es nicht verwundern, wenn dies starke Widerstände auslöst, statt begeisterte Zustimmung und Teilnahme. Es ist daher eigentlich selbstverständlich, dass Digitalisierungsstrategien und -konzepte klar genug kommuniziert gehören. Sonst darf man sich nicht wundern, wenn nichts vorangeht.

3. Interaktivität + Diversität

Sinn ist, wie Weick gezeigt hat, keine Einbahnstraße. Sinn kann nicht oktroyiert werden. Sinn ist vielmehr immer – ob bewusst oder unbewusst gesteuert, ob allein oder im Austausch mit anderen hergestellt – Ergebnis eines wechselseitigen Aushandelns. Dieser Prozess beruht auf dem Grundprinzip der Diversität, sprich: des „in Einklang bringen“ unterschiedlicher Sichtweisen, Vorstellungen, Meinungen. Damit dieser Prozess gelingt, muss man diese Unterschiedlichkeit aber überhaupt erst einmal zulassen. Schließlich ist es das, was Unternehmen immer wollen und fordern: Vielfalt. Umso erstaunlicher ist, dass viele Manager immer noch Schwierigkeiten damit haben, wenn es im Hinblick auf die zukünftige Digitalisierungsstrategie im Unternehmen unterschiedliche Meinungen gibt.

4. Plastizität

Sinn ist keine statische, sondern eine dynamische Größe. Sinn muss immer wieder neu definiert und bestätigt werden. Gerade in Zeiten der permanenten Veränderung sind „Sinnkrisen“ daher nichts Ungewöhnliches. Man muss diese Krisen allerdings aktiv managen. Wer dagegen meint, eine einmal verabschiedete Strategie würde reichen, stößt schnell an Grenzen, genauso wie derjenige, der diese „Sinnkrisen“ im Unternehmen nicht als Chance begreift und für tiefgreifende Transformationsprozesse nutzt. Die Praxis zeigt, dass es häufig gerade die Feedbacks sind, die man in solchen Sinnkrisen erhält, die am wertvollsten sind und die, insofern man sie aufgreift und in nachvollziehbare Veränderungsschritte umsetzt, den größten Erfolg produzieren.

5. Selbstreflektion

Sinnfindung setzt zwar nicht zwangsläufig voraus, dass man die Hintergründe von Sinnfindungsprozessen als Einzelner immer voll und ganz nachvollziehen kann. Sobald es aber, wie in Organisationen, Unternehmen und Teams, um die Interaktion mit anderen geht, ist es sehr hilfreich, ein Bewusstsein für die hinter den Sinnfindungsprozessen liegenden Werte, Einstellungsmuster und mentalen Modelle zu schaffen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die jeweils anderen, sondern auch im Hinblick auf das eigene Selbst.

Wie sowohl die Soziologie (Goffmann), Psychologie (Chaiken) als auch die Wirtschaftswissenschaften (Kahneman und Tversky) und die KI-Forschung (Marvin Minsky) gezeigt haben, neigen wir Menschen nämlich dazu, Situationen und deren Wahrnehmung zu „rahmen“.

Framing-Effekt“ nennt man das in den Wissenschaften. Das bedeutet im Prinzip, dass das, was wir in der Vergangenheit gelernt und erfahren haben und was in bestimmten Situationen wiederum mehr oder weniger stark aktiviert wird, unsere Wahrnehmung und Interpretation dieser Situationen stark beeinflusst.

Dass dies auch für die Wahrnehmung und Interpretation von Digitalisierungsthemen gilt, haben jüngst Maria Holmlund, Tore Strandvik Tore und Ilkka Lähteenmäki Ilkka im Journal of Service Theory and Practice aufgezeigt: In ihrer Befragung des Führungsteams einer Bank in Finnland konnten sie feststellen, dass zwar alle Mitglieder im Führungsteam die gleichen Digitalisierungsherausforderungen identifizierten, dass sie aber im Hinblick auf die Einschätzung der daraus resultierenden Konsequenzen für das eigene Bankhaus zu sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen kamen.

Auffällig war dabei, wie stark das Denken der meisten Befragten von klassischen „Bankerthemen“, z.B. Regulierungsherausforderungen, dominiert war und wie wenig dabei z.B. an den Endkunden gedacht wurde.

Sie kamen daher am Ende ihrer Studie zu dem Schluss, dass Manager gut beraten sind, sich vor der vorschnellen Initiierung neuer Innovationen zunächst einmal kritisch mit den eigenen mentalen Modellen auseinandersetzen sollten. Darauf werden wir im folgenden Kapitel eingehen.

6. Purpose

Sinnhaftigkeit kann durch die Schaffung eines höheren Sinns (purpose) vereinfacht werden. Wissenschaftler nennen dies auch „Resilienz“. Gerade, weil heute Sinnfindung in Organisationen mehr denn je komplex und dynamisch ist, ist es wichtig, gemeinsame, übergeordnete „mentale Orientierungsmodelle“ bzw. „Orientierungs-Frameworks“ zu entwickeln.

Wenn nämlich Mitarbeiter verstehen, wohin die Reise am Ende gehen sollte, wenn sie vielleicht sogar an der Entwicklung gemeinsamer Digitalisierungsleitbilder und Visionen im Sinne eines „Shared Purposes“ beteiligt sind, dann kann dies die Eigenmotivation deutlich erhöhen, sich auch aktiv für die Umsetzung dieser Leitbilder einzusetzen.

Visionen dürfen dabei nicht mit simplen Mission Statements oder Value Propositions gleichgesetzt werden. Während Mission Statements wiedergeben, wofür ein Unternehmen bereits heute steht, und Value Propositions, welchen Nutzen das Unternehmen Kunden verspricht und wie es sich darin vom Wettbewerb unterscheidet (USP), sind Leitbilder und Visionen klar auf die Zukunft ausgerichtet. Sie sind dazu da, den Mitarbeitern und sonstigen Stakeholdern aufzuzeigen, wohin die Reise gehen soll, was man als gemeinsamen Zweck, als höhere Absicht anstrebt.

Helmut Schmidt war es, der einmal gesagt haben soll, „wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. Manager, die Visionen, Leitbilder und Ähnliches nicht mögen, berufen sich gern auf ihn, wenn sie solche Unterfangen zu unterbinden versuchen (meist deshalb, weil es ihnen persönlich schwerfällt, die Bedeutung solch mentaler Leitbilder anzuerkennen.) Dabei hat sich Helmut Schmidt nicht nur mehrfach deutlich von diesem Zitat distanziert, sondern war selbst ein Beispiel dafür, dass man gerade in schwierigen Zeiten wie dem Ost-West-Konflikt auf visionäre Elemente in der Politik nicht verzichten kann.

Nicht nur im politischen, auch im privaten Bereich findet man viele Beispiele für die starke Wirkung einer Ausrichtung auf einen übergeordneten Sinn. So hat beispielsweise das Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock in einer gemeinsam mit der University of Western Ontario in Kanada  durchgeführten Befragung von 1.000 Ehepaaren herausgefunden, dass Kinder nicht per se die Zufriedenheit von Ehepaaren erhöhen. Sie können vielmehr, vor allem in den ersten Monaten nach der Geburt, ein erheblicher Stressfaktor sein. Dennoch meistern die meisten Eltern diese hochdynamische und komplexe Situation ziemlich souverän, nicht zuletzt da sie einen höheren Sinn darin erkennen, eine Familie zu haben und für ihre Kinder da zu sein. Ein höherer Sinn kann also in der Gesamtbetrachtung eine Situation positiv erlebbar machen, selbst wenn sie in der Einzelbetrachtung eher belastend ist.

Der Bielefelder Soziologe Walter Böckmann hat bereits in den 1970er-Jahren auf diesen wichtigen Zusammenhang hingewiesen und dabei eine sinn- und wertorientierte Führungslehre entwickelt, die auf dem Sinnverständnis des österreichischen Neurologen und Psychiaters Viktor E. Frankl aufbaut.

„Es gibt nichts in der Welt, das so sehr im Stand ist, Menschen über innere Beschwerden oder über äußere Schwierigkeiten hinwegzuhelfen, wie das Wissen um eine spezifische Aufgabe.“ Victor E. Frankl

Viktor Frankl hat während seiner eigenen Zeit als Gefangener im Konzentrationslager und später in seiner Arbeit mit ehemaligen amerikanischen Offizieren, die zum Teil jahrelang in Einzelhaft in nordvietnamesischer Gefangenschaft verbracht hatten, die erhaltende und auch mobilisierende Kraft des Sinns erforscht.

„Es gibt nichts in der Welt, das so sehr im Stand ist, Menschen über innere Beschwerden oder über äußere Schwierigkeiten hinwegzuhelfen, wie das Wissen um eine spezifische Aufgabe, das Wissen um einen ganz konkreten Sinn, nicht im Großen seines Lebens, sondern im Hier und Jetzt, in der konkreten Situation, die ihn konfrontiert.“ (Viktor Frankl)

Frankl hat sich – beruhend auf dieser Erkenntnis – ganz bewusst von der Maslowschen Bedürfnispyramide abgewandt, die noch heute das Denken vieler Personaler bestimmt.

Nicht die Selbstverwirklichung ist seiner Auffassung nach die höchste Stufe der persönlichen Bedürfnisse, sondern Sinnfindung im Sinne einer höheren „Selbsttranszendenz“. Jenseits der Konzentration auf das eigene Ich sind wir Menschen also offenbar so veranlagt, dass wir einen höheren Sinn erleben, wenn wir diesen nicht in uns selbst suchen, sondern uns mit anderen im Hinblick auf einen übergeordneten Sinn verbinden können.

Diesen Zustand nennt die neuere Sinnforschung übrigens schlicht „Flow“. Auch Maslow hat übrigens kurz vor seinem Tod die Ebene der Transzendenz über die Selbstverwirklichung gestellt. Das ist Grund genug, einmal darüber nachzudenken, ob man das nicht auch in der Führung von Unternehmen nutzen sollte.

Wie wichtig es ist, gerade unter Bedingungen erhöhter Dynamik, Komplexität und ständig neuer disruptiver, digitaler Veränderungen die Möglichkeit zu schaffen, sich gemeinsam auf eine solch höhere Absicht auszurichten, darauf hat jüngst Guido Wolf in einem sehr lesenswerten Buchbeitrag zum Thema „Rückkehr des Vision-Mission-Systems“ hingewiesen. In Zeiten der Digitalisierung stehen nämlich Führungskräfte wie Mitarbeiter gemeinsam vor der Herausforderung, häufig mutige Entscheidungen unter hoher Unsicherheit und deshalb auch hohen Risiken zu treffen. Das gelingt umso besser, wenn es dahinter eine übergeordnete Zielsetzung, eine gemeinsame Vision, eine geteilte Absicht gibt, die wie ein Kompass orientierend auf das eigene Tun wirkt:

„Organizations have to speed up their abilities for change if they intend to find successful answers to the questions raised by Industry 4.0 and digital transformation. The new dynamic of markets forces the companies to change their business models. Liquid structures and volatile process models also shake identity and identification. As an answer to this, the vision-mission system can create a relevant and meaningful orientation. And it is even more, as (Peter) Senge points out: ‘Shared vision fosters risk taking and experimentation’. The new markets require courageous actions to deal with risk and chance as well, often following unknown pathways in an experimental mode. An inspiring vision is a great resource for this pathway.” (Guido Wolf).

7. Spezifität

Sinnstiftung braucht mehr als nur Oberfläche. Sie darf sich, auch im Falle von Vision-Mission-Systemen, keinesfalls auf ein reines Marketing-Blabla beschränken. Wie Simone Burel in ihrer Dissertationsschrift über die Corporate Identity Systeme von DAX-Unternehmen aufgezeigt hat, ähneln sich in der Realität die Selbstbeschreibungen von Unternehmen jedoch in erschreckendem Maße.

Wenn Mitarbeiter immer nur die gleichen Selbstbeschwörungsformulierungen hören, à la „wir sind innovativ“, „wir sind konsequent auf die Bedürfnisse des Marktes ausgerichtet“, „wir wollen die digitale Transformation proaktiv vorantreiben“, dann nehmen sie diese selbst irgendwann – genauso wie die Kunden – nur noch als Luftblasen wahr.

„Wir wollen der weltweit größte Anbieter von ... Lösungen sein. Dabei wollen wir die individuellen Bedürfnisse unserer Kunden mit dem hochkarätigen Know-how unserer hervorragenden Mitarbeiter erfüllen und ein Wegbereiter für eine digitale Zukunft im Markt der ... sein.“

So oder ähnlich lauten die meisten Visionen, die wir kennen.

  • Ist das aus Ihrer ganz persönlichen Sicht heraus eine gute Vision?
  • Würden Sie sich diese Vision tatsächlich täglich vor Augen halten und Ihre Strategien danach ausrichten?
  • Ist das eine Vision, die Sie ganz persönlich und Ihr Unternehmen in die Zukunft zieht?
  • Würde diese Vision Ihre Mitarbeiter wirklich morgens aus dem Bett holen, damit sie endlich weiterarbeiten können, um die Vision wahr werden zu lassen?

Vermutlich nicht. Warum? Weil diese Vision viel zu unspezifisch, zu austauschbar und daher am Ende nichtssagend ist. Wahrscheinlich können Sie, lieber Leser, diese Vision bereits jetzt schon nicht mehr erinnern.

Die Kunst bei der Entwicklung gemeinsamer sinnstiftender Leitbilder besteht also darin, diese so spezifisch zu machen, dass sie tatsächlich auf das jeweilige Unternehmen zugeschnitten sind und dennoch genügend anschlussfähig an die Themen sind, die Mitarbeiter und sonstige Stakeholder im Unternehmen (Kunden, Investoren, Politik und Medien etc.) bewegen.

8. Motivationskraft

Gute Leitbilder sollten so formuliert sein, dass sie für Mitarbeiter nicht nur einen Sinn ergeben, sondern auch eine Zugkraft aus der Zukunft besitzen. Anders können sie nicht die Wirkung entfalten, die Manager von ihnen erwarten. Auf diesen Zusammenhang hat der Managementprofessor C.K. Prahalad bereits in den 1990er-Jahren hingewiesen.

„Companies need to have a strategic intent – to have an aspiration that is widely shared (…) that is the fuel which drives the engine… “ C.K. Prahalad, Management-Professor

Companies need to have a strategic intent – to have an aspiration that is widely shared (…) and to have an obsession with winning – that is the fuel which drives the engine. It is not enough to have a strategic architecture... It needs a shared aspiration which allows the company to stretch itself beyond its current resources – one that provides a sense of direction, a sense of common purpose, a sense of destiny, a single mindedness and inspiring challenge which commands the respect and the allegiance of every person.“ (C.K. Prahalad)

Die Wirkung einer guten Vision sollte zusammengefasst daher immer die folgenden Aspekte berücksichtigen. Sie sollte

  • inspirierend und anregend sein,
  • eine emotionale Zugkraft aus der Zukunft beinhalten,
  • motivieren, zusammenzuarbeiten,
  • langfristiges Denken, Risikobereitschaft und Experimentierfreude fördern,
  • eine gemeinsame Identität und einen Sinn kreieren,
  • einen wirklichen Mehrwert für die Menschen darstellen
  • und die Unternehmensstrategie bis hin zum Personalmanagement formen.

Wer das ernst nimmt, versteht sofort, warum man die Entwicklung einer glaubwürdigen Unternehmens-, Marken- und/oder Digitalvision nicht einfach völlig einer externen Werbeagentur oder Beratung überlassen sollte.

Beide können dabei helfen, zielorientierte Prozesse im Unternehmen aufzusetzen, um eine solche motivationsstarke Vision zu finden. Beide können auch bei der Ausformulierung solcher Visionen helfen. Das setzt allerdings voraus, dass ihnen der Unterschied zwischen kurzlebigen und häufig bewusst oberflächlichen Werbebotschaften und glaubwürdigen Visionen bewusst ist, was man in der Praxis leider häufig vermisst.

Ein Beispiel für eine Digitalvision, die das Kriterium einer starken internen Orientierungs- und Motivationskraft bei gleichzeitig klarer Formulierung erfüllt, ist das neue Leitbild von GE, auf das wir in einem der vorderen Kapitel bereits kurz hingewiesen haben. Verfolgte das Unternehmen noch bis vor Kurzem die Vision, ein weltweit führender Anbieter von Infrastrukturlösungen sein zu wollen, so hat man diese Vision Anfang 2015 bewusst in den Leitspruch „Premier digital industrial company“ umgewandelt.

Zwar war GE 2015 noch ein ganzes Stück davon entfernt, tatsächlich eine wirklich digitale industrielle Firma zu sein. Mit der Zielsetzung „PREMIER digital industrial company“ sein zu wollen, hat man sich jedoch nicht nur ein hohes motivatorisches Ziel gesetzt, das für alle Mitarbeiter leicht zu verstehen ist, sondern gleichzeitig auch eine direkte Kampfansage an den direkten Konkurrenten Siemens formuliert.

Inzwischen erkennt man, dass GE es mit dieser Absicht tatsächlich ernst meint. Neben dem Launch von PREDIX™ hat das Unternehmen in den letzten Monaten eine Vielzahl von Akquisitionen getätigt, um den Weg in die Digitalisierung zu beschleunigen. Darüber hinaus wird in allen Bereichen des Unternehmens aktiv daran gearbeitet, die beschriebene Vision wahr werden zu lassen.

Abb. 8: Die Bedeutung klarer Zielbilder und Visionen für die kulturelle Transformation von Unternehmen (© aergon)

Womit wir zum neunten wichtigen Aspekt einer gelingenden Sinnstiftung in Unternehmen kommen: der richtigen Kommunikation im Unternehmen.

9. Kommunikation

Sinn muss, wie wir weiter oben bereits gezeigt haben, jeden Tag neu erarbeitet werden. Das bedeutet aber zwangsläufig, dass auch Sinnsysteme höherer Ordnung (sprich: gemeinsame Digitalisierungsleitbilder und Visionen etc.) konsequent umgesetzt werden müssen. Umsetzung bedeutet dabei nicht nur die klassische Implementierung im Unternehmen über bekannte Instrumente wie Präsentationen, Schulungen, Filme etc. Diese können zwar helfen, die Leitbilder verständlich zu machen, viel wichtiger ist jedoch die persönliche Kommunikation als Prozess eines permanenten Erläuterns und Erfahrbarmachens der Inhalte dieser Leitbilder.

“Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Paul Watzlawik

„Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Dieses berühmte Diktum von Paul Watzlawik trifft unmittelbar auch auf die Umsetzung von Digitalisierungsleitbildern und -strategien in Unternehmen zu. Alles, was dort leider häufig NICHT kommuniziert wird, produziert nämlich in viel höherem Maße Friktionen als die tatsächlich angestrebten Ziele selbst. Man sollte daher mit den Mitarbeitern lieber gleich direkt, offen und explizit über die Sinnhaftigkeit der eigenen Digitalisierungsbestrebungen diskutieren, statt die Konstruktion des Sinns (oder auch Unsinns) solcher Bestrebungen der informellen Kommunikation der Mitarbeiter zu überlassen.

Dabei bleibt der Aspekt der persönlichen Kommunikation auch in digitalen Zeiten entscheidend: Albert Mehrabian, ein US-amerikanischer Psychologe hat sich Ende der 1960er-Jahre mit der Frage beschäftigt, unter welchen Bedingungen wir Menschen Glauben schenken und unter welchen nicht. Wenn Sprache, Stimme und Körpersprache unterschiedliche oder gar gegenteilige Aussagen beinhalten, haben Worte – das Digitale – nur noch zu 7% Einfluss darauf, was verstanden wird, die Stimme wirkt mit 38% und die Körpersprache mit 55%.

10. Tatkraft

Mit den Mitarbeitern über die Herausforderungen der Digitalisierung zu reden, bringt allerdings nur etwas, wenn darauf auch Taten folgen: Nur wenn Mitarbeiter wirklich erleben, dass die darin ausformulierten Grundsätze im Unternehmensalltag, in ihrem jeweiligen Fach- und Arbeitsbereich, in ihrem Team auch tatsächlich umgesetzt werden, ergeben diese für sie persönlich einen Sinn. Nur so wird im Luhmannschen Sinne wirklich „Anschlussfähigkeit“ und damit Glaubwürdigkeit geschaffen.

Oder anders formuliert: Die oben beschriebene Konnektierung mit einer Vision, die diese erst zum Leben erweckt, gelingt nur, wenn Mitarbeiter tatsächlich spüren und erleben, „das hat wirklich was mit mir zu tun, das verändert im positiven Sinne auch meine Arbeit, meine Selbstentfaltungsmöglichkeiten, mein Vorankommen (nicht nur das meines Chefs oder Unternehmens). Es erschließt auch mir neue Gestaltungsräume.“

Hierin besteht auch der wichtige Unterschied zwischen einer Vision und purer Illusion. Auch wenn eine Vision immer ein Leitbild sein sollte, dass die Mitarbeiter von der Zukunft aus anzieht (Pull), statt sie vom Jetzt ins Morgen zu stoßen (Push), braucht man eine unmittelbare Verbindung zur Gegenwart.

Mitarbeiter müssen erkennen, dass die Vision bereits heute im Alltag zu wahrnehmbaren Veränderungen führt. Nur dann können sie glauben, dass es das Unternehmen damit ernst meint. Paradiesstrategien, ein Vertrösten auf die Zukunft oder ein oberflächliches „Wir schaffen das“ zerstören die Glaubwürdigkeit, wenn man im Alltag erlebt, dass das dann eben doch nicht gelingt oder – noch schlimmer – nie wirklich ernst gemeint war.

Abb. 9: 10 Grundsätze, wie auch in digitalen Zeiten Sinn in Organisationen geschaffen werden kann

# Sinnreferenzen

Sucht man nach Beispielen, wie eine sinnvolle Sinnstiftung über übergeordnete Leitbilder funktionieren kann, dann findet man diese im nichtdigitalen Bereich, z.B. beim Unternehmen Starbucks, und im digitalen Bereich bei der Firma Nest Labs.

# Das Beispiel Starbucks

Als Howard Schultz in den 1980er-Jahren eine Vision für das frisch von ihm erworbene Unternehmen Starbucks entwarf, verknüpfte er diese nicht mit der Vision, einfach nur eine weitere nette Coffeeshop-Kette aufbauen zu wollen. Vielmehr entwickelte er gemeinsam mit seiner Kernmannschaft die Vision: „We want to be the third place“. Die Botschaft war dabei nicht nur eine klare Kampfansage an McDonalds, weil McDonalds tatsächlich genau der „third place“ war, wo sich die meisten Amerikaner neben ihrem Job und ihrem Zuhause damals aufhielten. Vielmehr war damit auch eine klare Message nach innen verknüpft: Wir wollen unseren Kunden den Aufenthalt bei uns so angenehm wie möglich machen, dass sie immer wieder gern zu uns zurückkommen und sich dort auch gern länger aufhalten.

Man mag Starbucks mögen oder nicht. Die Vision funktioniert bis heute und hat dem Unternehmen über alle Landesgrenzen hinweg eine funktionierende Gesamtorientierung gegeben.

# Das Beispiel Nest

Dass die Entwicklung eines solchen „shared purposes“ auch in digitalen Umfeldern hochrelevant ist, belegt das Beispiel Nest. Nest Labs mit Sitz in Palo Alto ist ein Automatisierungsunternehmen, das sich bei seiner Gründung vor allem der Entwicklung selbstlernender Thermostate verschrieben hat. Nest gelang es bereits vor seiner Gründung 50 Millionen US$ Risikokapital einzusammeln, basierend auf einer simplen Vision: „To create a conscious home“.

Es war nicht zuletzt diese Vision, die es Nest ermöglichte, in kürzester Zeit nicht nur das entsprechende Kapital einzusammeln, sondern auch ein Team zusammenzustellen, das bereit und in der Lage dazu war, in intensiver Arbeit nach nur wenigen Monaten Entwicklungszeit ein marktfähiges Produkt auf den Markt zu bringen, an dem andere Thermotechnikunternehmen bereits seit Jahren herumentwickelten.

Anfang 2014 wurde Nest Lab von Google übernommen, für sage und schreiben 3,2 Milliarden US$. Interessant daran ist, dass es Nest nach der Übernahme durch Alphabet nicht mehr wirklich gelungen zu sein scheint, an die alten Erfolge anzuknüpfen. Medienberichten zufolge, scheint Nest dabei inzwischen mit ganz ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen wie viele klassische Konzernunternehmen auch.

# Was kommt nach den Bälle-Bädern?

Auch in Digitalunternehmen gibt es also ganz ähnliche Herausforderung wie bei etablierten Playern. Auch sie müssen immer wieder gegenüber ihren Kunden, Investoren und auch den Mitarbeitern beweisen, dass sie es nicht nur schaffen, schlagkräftige Produkte und Dienstleistungen auf den Markt zu bringen, sondern dass sie damit auch eine klare Vision verbinden, die für die Stakeholder einen Sinn ergibt.

Was das in Zukunft gerade für Digitalunternehmen bedeutet, ist unserer Meinung nach bisher nicht wirklich voll erfasst worden. Es ist nur wenige Monate her, dass man Unternehmen wie Amazon, Apple, Google oder Tesla so gut wie alles zugetraut hätte: selbstfahrende Autos, Flüge zum Mars bin hin zur Lösung der Gesundheitsprobleme der Menschheit. Inzwischen macht sich in dieser Hinsicht doch deutlich mehr Skepsis breit.

Lediglich irgendwie anders, kreativer, schneller, agiler zu sein, reicht auf Dauer jedenfalls nicht aus, um Investoren, potenzielle Kunden und vor allem Mitarbeiter zu überzeugen. Wir wagen daher die Prognose, dass in Zukunft zunehmend auch Digitalunternehmen mit ganz ähnlichen Identitätsproblemen zu kämpfen haben werden, wie dies die etablierten Player heute schon tun.

In der Themenwoche „Zukunft der Arbeit“ des ARD war vor Kurzem hierzu ein schönes Beispiel zu sehen. Dort wurden verschiedene Google-Manager in ihren schönen bunten Büros befragt und gaben unisono an, sie seien bei Google „glücklich“.

Kurz darauf wurde ein ehemaliger Mitarbeiter von Google interviewt, der sich durchaus positiv über seine Zeit bei Google äußerte, aber gleichzeitig auch feststellte, dass die hohe Leistungsorientierung, die Google verlange, nur schwer mit einem funktionierenden Familienleben vereinbar sei und ihn Google manchmal schon an eine „Sekte“ erinnert habe.

Bälle-Bäder im Büro, Kicker-Zonen auf jeder Etage, bunte Wände und kostenlos gleich drei Mahlzeiten am Tag (Breakfast, Lunch, Dinner) machen Mitarbeiter nur eine gewisse Zeit glücklich, genauso wie das Gefühl, irgendwie an einer ganz großen Sache mitzuarbeiten.

Entscheidend für die Zufriedenheit von Mitarbeitern ist unserer Erfahrung nach vor allem die Frage, ob Ihre jeweils ganz persönliche Arbeit für Sie Sinn ergibt, ob sich Ihr Privat- und Berufsleben dabei miteinander vereinbaren lassen, ob man sich im Job wirklich verwirklichen kann oder ob man nur als Teil einer Maschine gesehen wird, die Leistung zu erbringen hat, von der dann vornehmlich andere profitieren.

Diese Herausforderung müssen etablierte Unternehmen wie Digitalunternehmen heute gleichermaßen meistern. Wollen sie, dass das tatsächlich gelingt, dann reicht es nicht, nur das Äußere im Unternehmen zu verändern.

Verändern muss man dann tatsächlich auch die innere Kultur in Unternehmen.

Und ja, auch das: den Umgang mit dem eigenen Selbst.