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Agile Souveränität

# Sich über die Situation erheben

Wie lässt sich das bisher Gesagte zusammenfassen?

In dem zuvor beschriebenen, fast undurchschaubaren Geflecht digitaler und analoger Interdependenzen gibt es keine universellen Lösungen, keine Faustregeln. Was in der einen Situation funktioniert, kann in der nächsten Situation ein ganz anderes Ergebnis bringen. Und alles ist wie in einem Mobile systemisch verbunden. Ein Eingriff auf der einen Seite bringt dort vielleicht eine Lösung, führt aber auch zu einer vielleicht ungewollten Verschlechterung an anderer Stelle. Umso mehr gilt es beim Führen (scheinbare) Widersprüche zu vereinen, „sowohl als auch“ statt „entweder oder“.

Diese Komplexität und die vielen Möglichkeiten in Verbindung mit ständig wachsender Geschwindigkeit wird mit herkömmlichen Mitteln und Organisationsformen nur noch schwer zu beherrschen sein, Führung muss, um mit Frederic Laloux zu sprechen, evolutionärer werden. In dem aus unserer Sicht komplexesten System, der Natur, gibt es ja auch keine Ansage an alle Bäume „Ab Frühlingsbeginn bitte in PANTONE® 15-0343-TCX ausschlagen“.

Sucht man nach einem Leitbild für eine solche evolutionäre Führung, dann bietet sich hierfür eines an: agile Souveränität.

Agile Souveränität bedeutet, die notwendige innere wie äußere Fähigkeit zu besitzen, in Zeiten einer hohen Dynamik und Dichte der Ereignisse und einer erhöhten Unsicherheit (pro-)aktiv, adaptiv, flexibel und damit möglichst effektiv auf diese Situation reagieren zu können, indem man sich souverän über die jeweilige Situation erhebt.

„Souverän agil bzw. agil souverän ist, wer in Zeiten hoher Dynamik, Ereignisdichte und Unsicherheit, aktiv, adaptiv, flexibel und damit möglichst effektiv auf eine jeweils gegebene Situation reagieren kann.“ d.lead

Nur wer bewusst mental aus hochdynamischen Situationen „heraussteigen“ kann, hat die Möglichkeit, diese Situationen überhaupt noch richtig zu deuten und kann selbstbestimmt über das eigene Verhalten in diesen Situationen entscheiden.

# Sportlicher Gang und Cruise Modus

Es gibt nur noch wenige Begriffe und selbst Wortkombinationen, die bei Google nicht auf eine mindestens dreistellige Trefferzahl kommen. Zum Begriff der „agilen Souveränität“ haben wir im November 2016 in der deutschsprachigen Variante jedoch gerade einmal vier Treffer finden können (und in der englischsprachigen Variante fünf).

Bei zwei dieser vier Treffer handelt es sich um die Produktbesprechung der Zeitschrift „Aktiv Radfahren“ über ein neues Faltrad namens „Moulton TSR 9“, die sehr gut zu dem passt, was wir unter „agiler Souveränität“ verstehen:

„Das Moulton TSR 9 lässt sich elegant gleitend oder sportlich wendig fahren. Dank hoher Wendigkeit gepaart mit hoher Direktheit ergibt sich eine agile Souveränität, die jedes Fahrmanöver klaglos ermöglicht.

Nimmt man den sportlichen ‚Gang’, fühlt man sich etwas an das gute alte BMX erinnert. Die Verspieltheit ist der hohen Rahmensteifigkeit und der Wendigkeit geschuldet. Wählt man den ‚Cruise’-Modus, spielen der stabile Rahmen und die ‚ausgewachsene’ Geometrie ihre Stärke zusammen aus.“

Natürlich lässt sich die Beschreibung eines Fahrrades nicht einfach so auf die neue digitale Führungskultur übertragen. Das obige Zitat war zugegebenermaßen auch ein Zufallstreffer, als der Begriff der „agilen Souveränität“ in den Diskussionen zwischen uns beiden Autoren bereits geboren war. Und doch enthält die Fahrradbeschreibung eine Menge Attribute, die sich gerade in ihrer scheinbar widersprüchlichen Kombination sehr gut auf ein zeitgemäßes Führungsverhalten übertragen lassen:

„Sportlichkeit, Wendigkeit, Verspieltheit, Agilität“ (der „Sports Modus“) auf der einen Seite gepaart mit „Stärke, Stabilität, Festigkeit, Souveränität“ (der „Cruise Modus“) auf der anderen Seite – genau diese Kombination ist es, die es in Zeiten der Digitalisierung mehr denn je in der Führung braucht.

Was jedoch ist damit konkret gemeint? Was bedeutet es einerseits agil und auf der anderen Seite souverän zu sein?

# Agil ist das neue erfolgreich

Agil ist das neue Zauberwort im Management der Gegenwart. Agil sein heißt dabei mehr als nur in den eigenen Strategien und Strukturen agil zu sein. In Zeiten erhöhter Dynamiken im Markt und prozessualer Komplexitäten ist es vor allem wichtig, mental agil zu sein.

Genau an einer solchen „mentalen Agilität“ mangelt es jedoch häufig in digitalen Transformationsprozessen, und zwar auf allen Seiten. Während viele Führungskräfte zwar die Notwendigkeit von Veränderungen in ihren Unternehmen erkannt haben, fällt es ihnen häufig nach wie vor schwer, dies auch in ihr Führungsverhalten und ihren Umgang mit Mitarbeitern zu übertragen.

Dass sich so viele Mitarbeiter schwertun, den Herausforderungen der Digitalisierung offen zu begegnen, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie allzu häufig erkennen müssen, dass ihre Chefs zwar „Agilität“ einfordern, ohne dies aber selbst zu sein.

„Viele Unternehmen wollen sich das Label ,agil‘ nur anheften, weil es als chic gilt“, so Boris Kneisel, Director Innovation Excellence beim Softwarehersteller SAP. Derartige „Fassaden-Agilisierungen“ führen jedoch nicht zum gewünschten Erfolg, sondern meist zum Misserfolg. Daher gehören agile Grundwerte wie Offenheit, Vertrauen, Teamwork oder hohe Adaptionsfähigkeit nicht nur auf die Agenda von Mitarbeiterteams, sondern ebenso auf die einer modernen Führung.

Hinzu kommt eine weitere Herausforderung: Wollen Führungskräfte ihr Unternehmen agiler machen, so führen die damit verbundenen Veränderungsprozesse im Unternehmen quasi immer zu Machtverschiebungen oder gar Machtverlusten. In den wenigsten Büchern über Agiles Management, Scrum oder die digitale Führung wird jedoch leider darüber gesprochen.

„Meistens schweigen sich die Autoren darüber aus, wie damit umzugehen ist, dass in einem Unternehmen mit der Einführung von agilen Arbeitsweisen (...) ca. ein Drittel der unteren Linienmanager einen starken Rollenwandel erlebt – und schlimmstenfalls seinen aktuellen Job verlieren kann“ (Boris Kneisel). Genau diese Ignoranz gegenüber Ängsten und Widerständen wird Unternehmen jedoch häufig zum Verhängnis, wenn sie agiler agieren wollen.

Angst vor Machtverlusten betrifft dabei jedoch keineswegs nur das untere Drittel im Unternehmen. Es sind häufig die Chefs selbst, welche die Zügel nicht lockerlassen wollen.

Es nützt wenig, wenn man vorneherum agil ist, aber hintenherum nicht. Zu einer der wichtigsten Erkenntnisse, zu denen man im Umgang mit agilen Prozessen gelangt, gehört demnach tatsächlich das „Loslassenkönnen“. Darauf kommen wir am Ende von d.lead noch einmal zurück.

An dieser Stelle sei allerdings schon einmal darauf verwiesen, dass die Loslassenkönnen nicht wie oft befürchtet, einen Souveränitätsverlust oder gar laissez faire bedeuten muss. Unsere Erfahrung zeigt vielmehr, dass die Führungskräfte, die gut im Loslassen sind, häufig die souveräneren Chefs sind. Nur wer „loslässt“, sprich: seinen Mitarbeitern auch die notwendigen Freiräume für wirklich agiles Handeln gibt, ist schließlich auch in der Lage, aus der Distanz heraus zu erkennen, wo trotz oder gerade wegen aller Agilität, die Unternehmen heute benötigen, Dinge schieflaufen und dann gegebenenfalls auch ein beherztes Intervenieren notwendig ist.

Damit kommen wir zur zweiten wichtigen Dimension der „agilen Souveränität“, nämlich der Souveränität.

# Ist souverän, wer über den Ausnahmezustand entscheidet?

Der Begriff „souverän“ (lat. „darüber stehend“) wird landläufig mit autoritärer Macht, z.B. des Staates, verknüpft. Der deutsche Staatsrechtler und politische Philosoph Carl Schmitt, hat ganz in diesem Sinne einmal das berühmte Zitat geprägt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“

Carl Schmitt, der als einer Wegbereiter des Nationalsozialismus gilt, ist zu Recht für dieses Zitat vielfach stark kritisiert worden, legt es doch nahe, den Ausnahmezustand gewissermaßen zum Dauerzustand zu erheben, um möglichst viel Macht ausüben zu können. Mag eine solche Strategie des permanenten Ausnahmezustands in der Geschichte politisch unter gewissen Umständen durchaus funktioniert haben und zum Teil heute leider immer noch angewendet werden, so lässt sie sich wohl kaum auf Unternehmen übertragen.

Unternehmen brauchen für ein sauberes Funktionieren gerade in hektischen Zeiten vor allem eines: stabile Prozesse. Aber auch Veränderungen, Innovationen, Transformationen sind wichtig. Sie lassen sich jedoch kaum in einem Zustand des permanenten Ausnahmezustands realisieren.

Souverän sein, wie wir es meinen, steht da eher für eine andere Dimension der „Souveränität“, die weniger mit Macht zu tun hat, sondern mit Selbstbestimmtheit, Entscheidungsstärke, Führungsvermögen, Integrationsfähigkeit, alles Fähigkeiten, die gerade unter schwierigen Bedingungen wichtig sind.

Dass solche Eigenschaften gerade in sich stark verändernden Systemen für die Selbsterhaltung essentiell sind, darauf hat der amerikanische Soziologe Talcott Parsons bereits in den 1950er-Jahren hingewiesen. Sein AGIL-Schema (siehe Abb. 15) beschreibt dabei vier Grundfunktionen, die ein jedes System zur Selbsterhaltung erfüllen muss.

Abb. 15: AGIL-Schema nach Talcott Parsons

Es ist also ein Aberglaube zu meinen, dass Systeme, um erfolgreich agil zu sein, keine Orientierung, Sicherheit und klare Zielsetzungen mehr bräuchten. Genau das Gegenteil ist der Fall. Gerade unter schwierigen Rahmenbedingungen, wie denen der Digitalisierung erwarten Mitarbeiter die klare Orientierung von ihren Führungskräften, wohin die Reise gehen soll, und ein persönliches Vorangehen ihrer Chefs. Dass kann, gerade auch in wirklich schwierigen Situationen, z.B. Unternehmenskrisen, bedeuten, dass ein beherztes Intervenieren unerlässlich ist, um das Unternehmenssystem zu stabilisieren.

Dieses direkte Intervenieren sollte jedoch in agilen Organisationen eher die Ausnahme, nicht die Regel sein. Wirklich „souverän“ ist nur die Führungskraft, welche die richtigen Situationen erkennt, in denen eine direkte Einflussnahme notwendig ist, die sich aber in den anderen Situationen zurücknehmen und stattdessen lieber auf die oben beschriebenen Kernfunktionen von Führung fokussieren sollte, nämlich Sicherstellung von Zielorientierung, Anpassungsfähigkeit, Integration und von Anschlussfähigkeit.

Genau dieses richtige Austarieren zwischen der Notwendigkeit, auch einmal beherzt selbst einzugreifen und sich in der Regel mit genau solchen Interventionen zurückzuhalten, hinzubekommen, erfordert eine enorme innere mentale Stärke. Souveränität bedeutet als Führungskraft daher immer auch, sich so zu disziplinieren, dass nicht jedes äußere Ereignis zwangsläufig eine Reaktion im eigenen Selbst auslöst. Sondern, dass man lernt, situativ und in Ruhe darüber zu entscheiden, wie man darauf reagieren will und sollte. Es gibt also leider keine Regel: Was in der einen Situation oder für das andere Gegenüber genau richtig ist, kann anderswo nach hinten losgehen.

# Nachhaltigkeit & Agilität

Es gibt noch ein großes Missverständnis in Bezug auf das Thema Agilität: Flexibel und zeitnah zu reagieren, heißt nicht, auf Nachhaltigkeit zu verzichten. Nicht nur die Generationen XYZ ff. erwarten mehr denn je, dass die Unternehmen, für die sie arbeiten, ökologisch und sozial nachhaltig arbeiten. Das haben große Konzerne längst erkannt und sich entsprechend ausgerichtet. Und dass ein Unternehmen gleichzeitig sehr erfolgreich sein kann, hat nicht nur VAUDE sehr eindrücklich gezeigt.

Ein wichtiger Gesichtspunkt ist jedoch auch die wirtschaftliche Nachhaltigkeit von Entscheidungen. Vorstände börsennotierter Gesellschaften stehen unter ständigem Druck, die Analysten davon zu überzeugen, dass ein Unternehmen auf Erfolgskurs ist. Das einfachste Mittel sind Einsparungen, aber auch viele andere Entscheidungen werden eher an ihrer schnellen, eher selten an ihrer nachhaltigen Wirkung gemessen.

Gerade der Hang zum Sparen hat in den 25 Jahren, in denen wir Kunden begleiten, immer wieder zu fatalen Auswirkungen auf die Unternehmenskultur geführt und am Ende mehr Geld gekostet, als sie eingespart haben. Der Dieselskandal bei VW zeigt sehr gut, wie teuer solche Entscheidungen am Ende werden können. Sicher müssen Unternehmen ihre Produktivität ständig verbessern. Prozesse müssen vereinfacht, Wege verkürzt werden. Doch bei allen Einsparungen sollte man immer einen Blick darauf richten, wie diese auf die Menschen wirken. Wenn der Sparkurs unumgänglich ist, kommt es darauf an, wie das Unternehmen dies so verständlich machen kann, dass die Mitarbeiter den Kurs mittragen oder gar unterstützen können.

Auch hier braucht man Mut, sich in den Wind zu stellen, mit Blick auf ein nachhaltiges Ergebnis auch einmal unpopuläre Entscheidungen zu treffen oder nur kleine Weichenstellungen vorzunehmen.

Stattdessen werden oft bombastische neue Strategien und Change-Prozesse implementiert. Diese hat es dann meist unter anderem Namen bereits schon gegeben. Sie wurden nur vom Vorgänger unter dem Motto „neue Besen kehren gut“ durch eigene Strategien ersetzt. Die Halbwertzeit solcher Initiativen beträgt in vielen Unternehmen meist kaum mehr als zwei bis drei Jahre, bevor dann das Vorgängermodell unter anderem Namen wieder als Neuerung eingeführt wird. Das alles kostet das Unternehmen und alle Beteiligten unglaublich viel Zeit, Geld und Nerven, denn diese Change-Prozesse involvieren die Mitarbeiter ja neben ihrem Tagesgeschäft. Die Konsequenz daraus: Das Unternehmen beschäftigt sich mit sich selbst, statt alle Kraft auf das eigentliche Geschäft mit den Kunden zu fokussieren.

Kein Wunder, dass Mitarbeiter oft nur noch müde lächeln, wenn wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird. Haben sie doch oft genug erlebt, dass der Wind ein paar Jahre später wieder in die alte Richtung dreht.

Wenn Führungskräfte, wie in Kapitel 8 beschrieben, jedoch innerlich gereift sind, über sich hinausgewachsen sind und ihre Ängste überwunden haben, ist der Blick frei, um nachhaltige Entscheidungen zu treffen.

# Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt

Wer dem Hyperaktionismus von heute entfliehen will, muss als Führungskraft also lernen, gerade in hektischen und angespannten Situationen Ruhe zu bewahren. Selbst Carl Schmitt hat am Ende seines Lebens – von den Schrecken des 2. Weltkrieges gezeichnet – sein eigenes Diktum noch einmal verändert in: „Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt.“

„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum ... und unsere Freiheit.“ Viktor Frankl

Ganz ähnlich hat Viktor Frankl einst festgestellt: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“

Einen „Raum der Wahl“ zu haben, heißt aber selbstverständlich immer noch, am Ende souverän (sprich: auf Basis sorgfältiger und nachvollziehbarer Überlegungen) entscheiden zu müssen, ob es in einer bestimmten Situation tatsächlich besser ist, aktiv selbst tätig zu werden oder ob man lieber das eigene Team machen lässt.

Genau diese Entscheidungsfähigkeit vermisst man bei einigen Führungskräften heute allerdings. Die gestiegene Dynamik, Intensität und Komplexität verleiten so manche Führungskraft dazu, nicht mehr selbst zu führen, sondern lieber abzuwarten. Das Nichtentscheiden wird dann nicht selten mit blindem Aktionismus nach dem Motto „Abwarten und in Bewegung bleiben“ kombiniert.

Mitarbeiter durchschauen das allerdings recht schnell und verlieren dann automatisch den Respekt vor ihrer Führungskraft.

Man muss also durchaus auch einmal die Initiative ergreifen. Sonst passiert das, was Soziologen und Psychologen gern als „rasenden Stillstand“ bezeichnen. Es passiert viel, aber de facto am Ende doch nichts.

Umgekehrt führen übertriebenes Intervenieren und hektischer Aktionismus an der Spitze häufig zu einem hyperaktiven Verhalten im gesamten Unternehmen. Auch in diesem Falle wird nicht agil souverän agiert, sondern eben chaotisch reagiert.

# Fahrt über Grund

Bei aller (unsouveränen) Hektik, die Führung in Zeiten der digitalen Transformation so gern entfaltet, ist uns daher vor allem ein Grundsatz wichtig: Führungskräfte sollten nie vergessen, das auch für sie ganz persönlich nicht entscheidend ist, wie viel Energie sie persönlich in ein Transformationsprojekt, eine Führungsaufgabe, das Vorankommen der eigenen Mannschaft gesteckt haben, sondern was am Ende dabei herauskommt.

Wie in der Schifffahrt ist nämlich nicht die Umdrehung der Schiffsschraube pro Minute wichtig, sondern wie viel Fahrt über Grund das Schiff macht – und auf Kurs. Wer ein guter Seefahrer ist, weiß, dass er neben der reinen Maschinenleistung eine Vielzahl weiteren Faktoren berücksichtigen muss, um sicher und schnell zum Ziel zu kommen, wie den Wasserstand, den Wellengang, das Wetter, den Zustand seiner Ladung und nicht zuletzt eine gute Mannschaft.

Für Unternehmen, die meinen, sie müssten bei zunehmendem Wellengang die Maschinen dauerhaft unter Volllast laufenlassen, führt dies auf Dauer meist zu erheblichen Friktionen, Ineffizienzen, Entropien, weißem Rauschen bis hin zum schleppenden Unternehmensinfarkt, alles Dinge, die Manager wie Ingenieure eigentlich tagtäglich zu verhindern versuchen.

# Ausgereift und abgeklärt

Wirklich „cool“ sind also diejenigen Führungskräfte, die in Zeiten der Digitalisierung nicht hektisch von einer Aktivität zur nächsten zappen, sondern gerade bei zunehmenden Marktturbulenzen einen kühlen Kopf bewahren. In ihrem Beitrag „Ausgereift und abgeklärt“, plädiert Ursula Kals von der FAZ daher auch für einen gezielten Einsatz erfahrener Führungskräfte neben digitalen Natives und liefert dafür gleich noch ein schönes Beispiel:

Im Großraumbüro eines Berliner Medienunternehmens ist kurz vor Redaktionsschluss Hektik ausgebrochen. Aktuelle Ereignisse machen die Themenplanung hinfällig, der Andruck drängt, es pressiert. Die jungen Kollegen lassen sich von der Aufregung überrollen, der Ton wird ruppiger, das Tempo höher, was der Qualität nicht zuträglich ist. Mittendrin sitzt der ergraute Ressortleiter, ganz Fels in der Brandung, begibt sich im größten Tohuwabohu raus auf die Dachterrasse und raucht in aller Seelenruhe eine Zigarette, kehrt zurück in das adrenalinverseuchte Team und verkündet: ‚So, wir machen jetzt ein Weltblatt! Du übernimmst den Aufmacher. Kollege X arbeitet mir zu. Ihr habt die letzte Seite im Blick.’ Ruhig lenkt er die Geschicke mit einer Mischung aus Erfahrung, Gelassenheit und Charisma.“

„Gute Führungskräfte zeichnen sich vor allem durch ... Erfahrung, Gelassenheit, Charisma und das Vermögen aus, im entscheidenden Moment die großen Achsen festlegen zu können.“ d.lead

Es ist genau diese Mischung aus Erfahrung, Gelassenheit, Charisma, aber auch das Vermögen, im entscheidenden Moment die großen Achsen festlegen zu können, die eine gute Führungskraft ausmacht.

Dass es vielen Führungskräften schwerfällt, genau dieses Mischungsverhältnis hinzukriegen, ist mehr als verständlich. Schließlich sind es häufig sie selbst, die unter enormem Druck stehen (vom Markt, von Analysten, von Gesellschaftern, vom Aufsichtsrat und meistens auch den Mitarbeitern im Unternehmen).

Auch wir, die Autoren von d.lead, haben dies selbst schon am eigenen Leib erfahren und dabei – zugegebenermaßen – selbst auch nicht immer richtig reagiert. Genau deshalb ist es uns so wichtig, auf diesen gefährlichen Zusammenhang hinzuweisen. Wer sich von Drucksituationen selbst anstecken lässt, verliert diese agile Souveränität und agiert dann genauso unsortiert, wie diejenige Führungskraft, die über Jahre gelernt hat, Souveränität nur nach außen vorzutäuschen, in Wahrheit dahinter aber Unsicherheit und Machtsucht verbirgt.

Gerade in schwierigen Situationen, unter Druck, wenn scheinbar nichts mehr vorangeht, muss man als Führungskraft den Teufelskreis durchbrechen und selbst einen anderen Weg beschreiten, als dies die eigene Organisation in schwierigen Situationen häufig tut. Das Erstaunliche daran ist: Gelingt es, dann hat dies zwar nicht immer, aber doch erstaunlich oft den Effekt, dass auch diejenigen, die um einen herum Druck ausüben, ihr Verhalten ändern.

Genau das ist es, was Führung ausmacht: dass man tatsächlich als Vorbild voranschreitet, indem man selbst in Situationen, die höchste Agilität erfordern, noch agil souverän agieren kann. Und dass man sich dabei das Ruder nicht aus der Hand nehmen lässt.

# Das Ruder in der Hand behalten

Auch das ist nämlich eine Herausforderung, mit der sich vor allem Führungskräfte an der Spitze von Unternehmen heutzutage häufig konfrontiert sehen. Dass sie nämlich scheinbar gar nicht mehr in der Lage sind, souverän selbst zu handeln und zu agieren.

Längst schon sehen sie sich selbst einem immer stärkeren Ausmaß direkter Interventionen ihrer Gesellschafter, Aufsichtsräte und Analysten gegenüber. Selbstverständlich muss es auch in Management-Eigentümer-Verhältnissen ein gesundes Maß an Steuerung geben, z.B. in Form von klaren Rahmensetzungen, regelmäßigen Abstimmungen und wechselseitigen Kontrollen im Sinne eines „Checks & Balances“-Systems.  Sonst entstehen schnell Probleme wie „Conflict of Interests“, „Moral Hazards, „Adverse Selection“ und „Hold-ups“, wie sie die Principal-Agent-Theory schon vor Jahrzehnten beschrieben hat.

Allerdings darf ein solches „Checks & Balances“-System nicht zu einem übertriebenen Interventionismus führen, der die Möglichkeit der Unternehmensspitze zu einer agil-souveränen Führung der ihnen anvertrauten Unternehmen konterkariert. Die Folge für die weitere Entwicklung des Unternehmens, seinen Markterfolg, ja sogar den Wert und Aktienkurs des Unternehmens sind dann mitunter erheblich.

Immer wieder erlebt man in der Praxis, dass sich – in Konzernen wie in Familienunternehmen – ehemalige Führungskräfte in den Aufsichts- oder Beirat zurückziehen und Manager von außen einstellen, um das Unternehmen so besser fit für die Zukunft machen zu können.

Wenn dann aber notwendige Veränderungen im Unternehmen initiiert werden, erleben diese von außen hinzugezogenen Manager nicht selten, wie sie durch Hinterzimmer-Interventionen aus dem Aufsichts- und/oder Beirat ausgebremst werden. Die notwendige Transformation wird so nicht nur konterkariert. Die Mitarbeiter riechen den Braten meist auch sehr schnell, was mit einem deutlichen Souveränitätsverlust der Geschäftsführung einhergeht und das Unternehmen zusätzlich lähmt.

Wer also wirkliche Veränderungen für das eigene Unternehmen will, muss nicht nur neue Führungskräfte von außen einstellen. Er muss auch zulassen, dass diese Führungskräfte Veränderungen agil souverän initiieren und vorantreiben und gerade dadurch die Interessen der Eigentümer wahren.

Wer aber ständig dazwischenfunkt, ständig selbst interveniert und meint, es im Grunde allein doch besser hingekriegt zu haben als das neue Management, untergräbt nicht nur die Souveränität von Führung, sondern verhindert auch jedwede Agilität.