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Der digitale Staat

# Disruption des Staatsmonopols

Bisher haben wir uns in diesem Werk vornehmlich mit Fragen der Unternehmens- und Mitarbeiterführung in Zeiten der Digitalisierung auseinandergesetzt.

Zwischen den Herausforderungen für die Führung von Unternehmen und der Herausforderung für die Staatsführung in Zeiten der Digitalisierung gibt es jedoch einige frappierende Ähnlichkeiten.

So gilt auch für den Staat und seine Institutionen, ähnlich wie für die Führung von Unternehmen, dass durch die Digitalisierung klassische Machtmonopole mehr und mehr in Frage gestellt werden. Damit ist weniger gemeint, dass in digitalen Netzwerken die Stimmen zunehmend an Geltung gewinnen, die jedwede Staatsräson in Frage stellen. Vielmehr ist festzustellen, dass sich der Staat selbst in Zeiten der Digitalisierung immer mehr darin überfordert sieht, das eigene Machtmonopol und die eigene Ordnungsfunktion überhaupt noch durchzusetzen.

„Der Staat sieht sich in Zeiten der Digitalisierung immer mehr darin herausgefordert, das eigene Machtmonopol und die eigene Ordnungsfunktion überhaupt noch durchzusetzen zu können.“ d.lead

Ursächlich dafür ist nicht zuletzt, dass in einer vernetzten digitalen Welt tradierte Rechtsvorstellungen mehr und mehr an ihre Grenzen stoßen. Dazu schreibt die Buccerius Law School auf ihrer Einladung zum JuWissDay 2016 unter der Überschrift „Digitalisierung und Recht“:

„Die digitale Vernetzung der Welt greift auch grundlegende tradierte Rechtsvorstellungen an. Es stellt sich etwa die Frage, was der digitale Wandel für die moderne Staatsführung und globale Machtverhältnisse bedeutet. Auch der Rechtsbegriff muss sich angesichts informaler Steuerungsmechanismen (Codes, Selbstregulierung, Algorithmen) neu behaupten. Im Cyberspace entstehen neue Sicherheitsrisiken. Schließlich wandelt sich auch das Kapitalmarktrecht durch den ‚algorithmischen Handel’.“

Was bedeutet das für die Staatsführung? Warum stoßen staatliche Institutionen immer mehr an ihre Grenzen, wenn sie einen vernünftigen Ordnungsrahmen für eine erfolgreiche digitale Wirtschaft schaffen wollen? Und warum kann auch hier das Prinzip der „agilen Souveränität“ ein Leitbild für die Weiterentwicklung dessen sein, was man gemeinhin als Staatskunst bezeichnet?

Diesen Fragen wollen wir auf den folgenden Seiten nachgehen, ohne dabei der Anmaßung zu unterliegen, auf einigen wenigen Seiten auch noch eine Fachabhandlung über digitale Staatskunst abliefern zu können.

# Digitales Staatsversagen

Ist es wirklich angemessen, aufgrund der Herausforderungen der Digitalisierung gleich von einem „Staatsversagen“ zu sprechen und von Deutschland als „digitally failed state“? Der bekannte Blogger Sascha Lobo hat das im Juni 2014 im Kontext der Snowden-Affäre im Spiegel genauso getan. Dort schreibt er:

„Die Diagnose ‚failed state’, gescheiterter Staat, wurde in den neunziger Jahren bekannt. So werden Staaten bezeichnet, deren Gewaltmonopol bröckelt und die nicht mehr für die Sicherheit der Bürger garantieren können. Staaten also, die Schwierigkeiten haben, geltendes Recht durchzusetzen. Die Aufdeckung der Radikalüberwachung und die folgende Nichtaufarbeitung zeigen: Deutschland ist ein ‚digitally failed state’. (...)

Digitales Staatsversagen, ist das nicht übertrieben? Keineswegs. Der deutsche Staat ist offensichtlich nicht in der Lage, einem millionenfachen Grundrechtsbruch im Internet entgegenzutreten. (...) Wer je im Verlauf der letzten zwölf Monate verstört oder gar erzürnt war über die flächendeckende Totalüberwachung, hat nicht den geringsten Grund, inzwischen entspannt zu sein. Es hat sich diesbezüglich exakt nichts geändert. (...)

Ein gespenstisches Szenario der umfassenden digitalen Hilflosigkeit, und das ist noch die freundlichere Interpretation. Die leider realistischere ist, dass Abhilfe gar nicht erwünscht ist, dass der digital gescheiterte Staat politisch in Kauf genommen wird. Die Verfassungsgüter der eigenen Bürger werden als Tauschware auf dem internationalen Überwachungsmarkt angesehen.

Es handelt sich damit um eine kalkulierte Nichtdurchsetzung von Grundrechten in der digitalen Sphäre. Das Internet ist damit politisch gewollt zum vormals berüchtigten rechtsfreien Raum verkommen.“

Das Internet ist (...) politisch gewollt zum rechtsfreien Raum verkommen.“ Sascha Lobo, Blogger

Die Diagnose „failed state“ allein mit den Aufdeckungen von Edward Snowden und Wikileaks zu verknüpfen, greift jedoch aus unserer Sicht zu kurz. Es gibt darüber hinaus noch weitere Aspekte, welche die Diagnose eines in Fragen der Digitalisierung sicherlich nicht gescheiterten, aber doch immer noch „überforderten Staates“ unterstreichen. Auf diese wollen wir im Folgenden kurz näher eingehen.

# Unzureichende Infrastruktur

Ähnlich wie viele Manager so gefallen sich auch europäische Politiker immer mehr darin, sich mit den Insignien der Digitalisierung zu schmücken. Ein Auftritt auf einem Start-up-Event oder einem Industrie-4.0-Kongress der Hannover Messe? Heute fast schon ein „Must have“ für jeden aufstrebenden Politiker. Buzzwords wie „Internet of Things“, „Big Data“, „Cloud Computing“? Heute so gut wie in jeder Zukunftsrede im Bundestag zu hören.

Auch in den digitalen Leitbildern der Bundesregierung etwa zur „Digitalen Agenda“ bzw. „Digitalen Verwaltung“ mangelt es nicht an einem entsprechenden „Buzzwording“.

Dort ist etwa zu lesen: „Demokratie lebt von Teilhabe. Digitale Dienste ermöglichen dabei den verstärkten Dialog im demokratischen Raum und stellen Informationen bereit, die in der Vergangenheit häufig nur schwer zugänglich waren. Wir verbessern die digitalen Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger (...)“

Und weiter: „Die Bürgerinnen und Bürger benötigen für die Mitwirkungsprozesse einen gleichberechtigten Zugang zu Informationen und Dienstleistungen. Wir fördern daher die Barrierefreiheit in digitalen Medien (...)

Wir wollen Klarheit über das anwendbare ‚Völkerrecht des Netzes’ herstellen, um die geltenden Grund­ und Freiheitsrechte auch in der digitalen Welt wirksam zu schützen und die Chancen für eine demokratische Teilhabe am weltweiten Kommunikationsnetz zu verstärken. Das Recht auf Privatsphäre und die Informations- und Meinungsfreiheit müssen auch im digitalen Zeitalter durchgesetzt werden.“

# Mangelnde Substanz

Das Problem an derartigen Selbstbeschwörungen ist nur: Hinter der Fassade steckt leider viel zu wenig Substanz. So liegt Deutschland, was den effektiven Digitalisierungsgrad anbetrifft, aktuell nur im Mittelfeld. Im „Digital Density Index“ von Accenture erreicht Deutschland beispielsweise nur 51,9 von 100 möglichen Punkten und landet im Ranking der 17 untersuchten führenden Volkswirtschaften nur auf Rang 9.

Auch im „European Digital Progress Report“ der EU landet Deutschland nur auf Platz 9 (von 28), mit Schwachstellen in zwei entscheidenden Kernbereichen: digitale Infrastruktur (Glasfaser-Internet) und E-Government.

Im Bereich E-Government landet die Bundesrepublik im EU-Ranking sogar nur auf Platz 18 von 28. Lediglich 19% der deutschen Internetnutzer nutzen demnach entsprechende Angebote, das ist einer der niedrigsten Werte in der gesamten EU.

Sucht man nach einem Vorbild, wie man das Thema E-Government vorantreiben kann, dann findet man dies erstaunlicherweise in dem kleinen europäischen Land Estland: Dort gibt es mittlerweile rund 600 E-Government-Dienste, von der elektronischen Steuererklärung bis zum E-Voting.

# Fehlende Regulierung

Nicht nur die unzureichende technische Infrastruktur (schnelles Netz) und logistische Infrastruktur (E-Government), auch ein inzwischen in erheblichem Maße defizitärer Rechtsrahmen sind mit ausschlaggebend dafür, dass es berechtigt ist, in Zeiten der Digitalisierung von einem zunehmend überforderten Staat zu sprechen.

Zwar fordern inzwischen alle großen Parteien und parteinahen Stiftungen eine Anpassung des ordnungsrechtlichen Rahmens, um den Herausforderungen der Digitalisierung gerecht zu werden. De facto hat diese bisher in der Praxis jedoch nur unzureichend stattgefunden.

Ein Beispiel unter vielen: Während heute jede Würstchenbude strengsten ordnungs- und gewerberechtlichen Vorgaben unterliegt, sucht man diese für Internetunternehmen vergeblich. Wer etwa als Würstchenbudenbetreiber seine Stehtische nur wenige Zentimeter weiter auf den Gehweg stellt, als vom Ordnungs-/Gewerbeamt vorgegeben, bekommt über kurz oder lang Probleme. Betreiber von Würstchenbuden unterliegen darüber hinaus regelmäßigen Kontrollen im Hinblick auf die Einhaltung hygienerechtlicher und arbeitsrechtlicher Vorschriften. Darüber hinaus müssen sie Steuervorauszahlungen in erheblichem Maße leisten. Und kein Würstchenbudenbetreiber der Welt darf Dritten Informationen darüber verkaufen, wer wann wie bei ihm eine Currywurst gekauft hat.

Digitalunternehmen genießen dagegen heute meist noch eine erstaunliche Freiheit. Schon mal gehört, dass Mitarbeiter von Ordnungsämtern monatliche Kontrollen bei Digitalunternehmen vorgenommen haben? Eher nicht. Im stationären Bereich sind diese in einigen Bereichen (z.B. in der Gastronomie) dagegen gängige Praxis.

Erstaunlich ist, dass sich – trotz dieser augenscheinlichen Ungleichbehandlung – viele Wirtschaftsliberale wie Wirtschaftskritiker darin einig sind, die Netzfreiheit auch zukünftig zu erhalten: Sie plädieren dafür, dass Internet unter dem Vorwand unerlässlicher „Netzneutralität“ weitgehend regelungsfrei zu halten.

Ohne klare rechtliche Regelungen und deren Einhaltung droht das Wirtschaftsgefüge im Netz (und auch darüber hinaus) jedoch erheblich gestört zu werden. In vielen Bereichen des Internets (Suchmaschinen, soziale Netzwerke, digitale Buch- und Musikshops etc.) haben sich bereits jetzt oligopol- bzw. monopolartige Strukturen herausgebildet. Unlautere Wettbewerbspraktiken sind dort an der Tagesordnung. Dass diese Entwicklung weitergeht, können weder wirtschaftsfreundliche noch wirtschaftskritische Stimmen wollen.

„Ohne klare rechtliche Regelungen und deren Einhaltung droht das Wirtschaftsgefüge im Netz und darüber hinaus erheblich gestört zu werden.“ d.lead

Damit auch die digitale Wirtschaft ordentlich funktioniert, ist also auch dort ein angemessener ordnungspolitischer Rahmen notwendig. Damit wollen wir keineswegs für einen digitalen Kontroll- oder gar Überwachungsstaat plädieren. Im Gegenteil: Der Abbau vieler unnötiger behördlicher Schikanen ohne wirklichen Nutzen für den Verbraucher oder die Gemeinschaft ist auch im Offline-Bereich mehr als empfehlenswert.

Die vollkommene Abwesenheit von Regeln und deren Einhaltung ist allerdings genauso wenig agil oder souverän wie ein zuviel an Regeln. Beides führt dazu, dass Wettbewerb und Markt nicht mehr richtig funktionieren, was keiner wollen kann.

Wie schwierig eine Regulierung digitalen Marktes ist, zeigt u.a. die sogenannte Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union. Kritiker haben den Urhebern dieser Charta, einer Gruppe von Politikern, Wissenschaftlern, Schriftstellern, Journalisten, Netzaktivisten und Bürgerrechtlern vorgeworfen, sie folgten einer „Zensurphantasien“ und eine „vermessener“ Regulierungshang.

Die Juristin Julia Zeh hat dieser Kritik entgegengesetzt, dass es auffällig ist, wie viele Entscheidungsträgern die in der Charta angesprochenen Missständen zwar selber missbilligten, wie wenige jedoch bislang die Initiative ergriffen hätte, etwas dagegen zu unternehmen. Dass eine vernünftige Regulierung schwer ist, bedeutet noch lange nicht, deshalb eine anhaltende und gefährliche Nichtregulierung zu praktizieren.

„Unsere Gesetze sind aus der analogen Welt und passen oftmals nicht.“ Prof. Dr. Johannes Caspar, Datenschutzbeauftragter der Freien Hansestadt Hamburg

Mit seiner Nichtregulierung gerät der Staat jedenfalls zunehmend in ein Dilemma: Einerseits zwingt ihn die Schnelligkeit der Veränderungen dazu, den Rechtsrahmen schneller an diese Veränderungen anzupassen. Andererseits gelingt es ihm aufgrund seiner eigenen Behäbigkeit immer schlechter genau dies zu tun. Dieses Dilemma hat der Hamburger Datenschutzbeauftragte Prof. Dr. Johannes Caspar folgendermaßen beschrieben:

„Unsere Gesetze sind aus der analogen Welt und passen oftmals nicht. Aufgrund der Komplexität der Materie und der hohen technischen Dynamik der Entwicklungen ist der Gesetzgeber partiell überfordert und befindet sich in einem permanenten Nachsteuerungsdilemma. Was der Gesetzgeber anfasst, ist oft schon wieder veraltet, nachdem es durch die gesellschaftlichen und politischen Diskurse gegangen ist. Leider ist aber auch zu konstatieren, dass oft der Wille zu innovativen Regelungen fehlt. Erinnert sei nur an das 2010 vom damaligen Innenminister angekündigte ‚Rote-Linien-Gesetz’ für den Datenschutz im Bereich des Internets, von dem wir nach wie vor weit entfernt sind.“

# Mangelhafte Durchsetzungsbereitschaft

Die zunehmende Überforderung des Staates in Zeiten der Digitalisierung hat allerdings nicht nur etwas mit derartigen Timelags in der Anpassung der Rechtsordnung zu tun, sondern ganz offensichtlich auch mit dem fehlenden Willen, diese im digitalen Bereich genauso konsequent umzusetzen, wie im nichtdigitalen Bereich.

Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sich vor allem Mitarbeiter unterer Behörden häufig selbst damit überfordert sehen, mit den Herausforderungen der Digitalisierung zurechtzukommen.

Ein Beispiel von vielen liefert hier der Glücksspielmarkt. Die Umsetzung geltenden Rechts in Form des Glücksspielstaatsvertrages ist nicht nur an tatsächlich bestehenden europarechtlichen Problemen gescheitert. Ursächlich hierfür war vielmehr auch, dass die jeweils zuständigen Landesbehörden eine Umsetzung aus persönlicher Überforderung heraus verschleppt haben. Die Zerstrittenheit der Landesregierungen bot ihnen hierfür eine perfekte Rechtfertigungsgrundlage. Im Ergebnis hat der weitgehende Nichtvollzug dazu geführt, dass die bereits zuvor bestehenden erheblichen Verschiebungen des Glücksspielmarktes weg von legalen Anbietern in Richtung unkontrollierter Anbieter aus Steuerparadiesen wie Malta und Gibraltar erheblich verstärkt wurde.

Ein ähnliches Vollzugsdefizit des Staates gibt es auch bei Themen wie dem digitalen Verbraucher-, Persönlichkeits- und Betrugsschutz. Wer beispielsweise einmal bei einem sozialen Netzwerk versucht hat, sich gegen persönliche Verleumdung zu wehren (nach § 187 StGB ein eindeutiger Straftatbestand), wird feststellen müssen, dass seine Eingaben bei dem jeweiligen Netzwerk meist nur Standard-E-Mailantworten bewirken, nicht aber eine Löschung der verleumderischen Posts. Versucht man sich darüber bei staatlichen Stellen zu beschweren, dann zeigen sich diese in der Regel überfordert und lehnen jedwede Intervention behördlicherseits ab.

Ähnliches gilt für betrügerische Angebote von Fake-Händlern auf Online-Marktplätzen: Kunden, die darauf reinfallen, werden von den Betreibern dieser Online-Marktplätze bei der Durchsetzung ihrer berechtigten Rechtsinteressen häufig allein gelassen. Dabei gibt es durchaus gesetzliche Regelungen, welche die Betreiber eigentlich verpflichten würden, für ein ordentliches Funktionieren ihrer Marktplätze zu sorgen. Man stelle sich einmal vor, Betreiber von Finanzbörsen wie die Deutsche Börse AG, NYSE oder die London Stock Exchange würden solche Fake-Händler zulassen: unmöglich! Oder aber auch, ein Betreiber eines Flohmarktes würde Betrug auf seinem Markt dulden. Das Gewerbeamt würde ihm über kurz oder lang seine Erlaubnis entziehen.

Und noch ein weiteres Beispiel: Die weitgehende Umgehung steuerlicher Regelungen durch Internetunternehmen hat bereits zu erheblichen Verschiebungen im Steueraufkommen einzelner Länder geführt. Auch hier gilt, dass es weniger an tatsächlichen gesetzlichen Veränderungen (z.B. in Form entsprechender EU-Richtlinien) mangelt, als vielmehr an erheblichen Umsetzungsherausforderungen, die z.B. darin bestehen, dass es für einzelne Finanzämter häufig schwierig ist, länderübergreifende Transaktionen im Digitalbereich richtig zuzuordnen und nachzuvollziehen.

Auch mit der Umsetzung des Datenschutzes tun sich staatliche Behörden bisher schwer. So hat es in den vergangenen Jahren über verschiedene Novellen des Bundesdatenschutzgesetzes und entsprechende landesrechtliche Regelungen tatsächlich eine deutliche Verbesserung des gesetzlichen Schutzes personenbezogener Daten gegen missbräuchliche Verwendung gegeben. Das Problem ist nur, dass die Einhaltung dieser Gesetze nicht genügend überwacht wird.

Wie etwa ist es sonst möglich, dass – wie jüngst unter der Überschrift „Nackt im Netz“ in den Medien zu lesen war – die Web-Historie von Millionen Nutzern ohne deren Wissen völlig straffrei im Internet zu kaufen war (siehe hierzu unsere Ausführungen in Kapitel 10). Zwar war der Aufschrei in den Medien groß, unter anderem da dabei nicht nur Daten von Privatpersonen, sondern auch von Politikern und Managern verkauft wurden, Passiert ist de facto bisher jedoch wenig, obwohl die Betreiber der Bots, welche die Daten gesammelt haben, offensichtlich klar identifizierbar sind.

# Unabhängige Kontrolle

Dass es durchaus Mittel und Wege gibt, auf Grundlage geltender Gesetze für einen funktionierenden Datenschutz und damit auch für einen intakten wirtschaftlichen Handlungsrahmen zu sorgen, hat der Hamburgische Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit im Juli 2016 bewiesen. Er hatte damals eine Verwaltungsanordnung erlassen, die es Facebook untersagte, jenseits des geltenden rechtlichen Rahmens Daten von deutschen WhatsApp-Nutzern zu erheben und zu speichern.

Die Tatsache, dass er bisher mit solchen Aktionen weitgehend allein dastand, ist allerdings nicht nur erschreckend, sondern symptomatisch für ein zunehmendes Staatsversagen in digitalen Zeiten.

Dabei liefert gerade der Datenschutz eine gute Vorlage dafür, wie die Ausübung von Staatsmacht in Zeiten der Digitalisierung gut funktionieren kann. Mit der Schaffung rechtlich selbstständiger Kontrollstellen für Datenschutz hat man sich ja bewusst gegen das herkömmliche Schema der Ausübung von Staatsgewalt durch untere, häufig überforderte Verwaltungsbehörden entschieden und stattdessen unabhängige Einrichtungen geschaffen (wie es ja ähnlich auch das Bundeskartellamt, die Monopolkommission oder das Bundesumweltamt sind), die ein hohes Maß an Fachexpertise und Neutralität mit dem notwendigen Maß an Agilität verknüpfen.

Was also ist zu tun? Wie kann der Staat als oberste Instanz einer gleichermaßen agilen wie souveränen Demokratie in Zeiten der zunehmenden Digitalisierung wieder sein rechtliches Monopol zurückerlangen? Auch hierfür gibt es sicherlich kein Patentrezept. Aber einige Grundregeln, die man unserer Auffassung nach beachten sollte.

# Steigerung der Digitalpräsenz

Gerade weil das Internet nicht nur Transparenz liefert, sondern in steigendem Maße auch Intransparenzen fördert, sind staatliche Institutionen aufgefordert, ihre Digitalpräsenz deutlich zu erhöhen.

Nicht etwa in Form peinlicher Tweets, die so mancher Politiker absondert oder aber wöchentlicher Podcasts der Kanzlerin, die vor dem Hintergrund immer schnellerer Informationshalbwertzeiten im Netz kaum noch Wirkung zeigen, sondern im Sinne einer hochaktuellen und umfassenden digitalen Informationspolitik von Politik und Verwaltung.

Erschreckenderweise sind es ja häufig die politischen Randparteien und die diese begleitenden Nischenmedien, welche die Klaviatur einer erfolgreichen Medienpolitik im Netz viel besser beherrschen als die etablierten politischen Institutionen.

Wer sich hier mit den richtigen, weil objektiv überprüfbaren Informationen, durchsetzen will, muss allerdings auch bereit sein, klare Regeln für eine gelingende Medienpolitik im Netz zu formulieren. Was etwa spricht gegen ein Verbot von „sozialen Bots“? Im Prinzip handelt es sich dabei um nichts anderes als um politische Irreführung oder – um im Wirtschaftsjargon zu bleiben – um unlauteren Wettbewerb. Der ist auch im Wirtschaftsleben verboten. Warum tut man sich im politischen Kontext so schwer damit, das zu begrenzen?

# Erhöhung der Digitalkompetenz

Neben einer Erhöhung der Digitalpräsenz, ist es unserer Auffassung nach wichtig, dass der Staat mit allen drei Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) die eigenen digitalen Kompetenzen erheblich ausbaut, um für die Herausforderungen der Digitalisierung gewappnet zu sein.

Auch hier gilt, dass das eine oder andere Expertengremium, ein Fachbeirat, die Ernennung von „Digital-Botschaftern“ ein erster wichtiger Schritt sein kann, die staatlichen Digitalkompetenzen zu erhöhen. Allerdings erinnern viele dieser Maßnahmen doch eher an Oberflächenkosmetik, ganz ähnlich wie die Gründung eines „Digital Labs“ in manchen Unternehmen.

Was den Staat betrifft mangelt es daran, dass er Digitalkompetenz in zunehmendem Maße auch in die eigene Organisation hineinträgt, dort implementiert und nicht nur externe Experten für die Beantwortung digitaler Fragen hinzuzieht, auch wenn deren Unterstützung sicherlich wichtig ist.

„Der Staat muss Digitalkompetenz vermehrt in die eigene Organisation hineintragen und dort implementieren.“ d.lead

Schaut man sich etwa die Schwierigkeiten an, die staatliche Institutionen, von der Bundeswehr über Polizei und Steuerbehörden bis hin zu städtischen Verwaltungen, aktuell noch damit haben, IT-Kompetenz in ihren Behörden zu implementieren, dann zeigt sich hier doch noch ein erhebliches Handlungsdefizit.

Digitale Handlungsfähigkeit setzt also zunächst den richtigen Umgang mit digitalen Techniken voraus. Wie hilfreich das etwa in Krisensituationen sein kann, zeigt das folgende Beispiel: Als am 23. August 2011 ein Erdbeben der Stärke 5,9 die Region rund um Richmond, Virginia traf, erfuhren Anwohner in New York sofort per Twitter davon und zwar 30 Sekunden bevor die Erdbebenwelle auch sie betraf.

Die verstärkte Nutzung digitaler Techniken ist aus unserer Sicht allerdings nicht ausreichend, um von wirklicher Digitalkompetenz auf Seiten staatlicher Institutionen zu sprechen. Wichtig ist vielmehr, dass der staatliche Verwaltungsapparat lernt, mit diesen neuen digitalen Techniken auch richtig umzugehen.

Wie das im Idealfall aussehen kann, war während des Amoklaufs am Münchener Olympia-Einkaufszentrum im Sommer 2016 gut zu sehen. Der Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins hat damals nicht nur den Dialog mit den klassischen TV-Medien hervorragend gemeistert, sondern mit seinem Team auch die sozialen Medien so bespielt, dass dies erheblich zur Beruhigung der Massen beitrug.

„Souverän“, „offen“, „professionell“, „schnell“, „agil“, diese Attribute wurden danach der Münchener Polizei in den Medien zugesprochen, alles Eigenschaften, die sehr stark an das von uns propagierte Leitbild der „agilen Souveränität“ erinnert.

# Optimierung der staatlichen Handlungsstrukturen

Was häufig verhindert, dass staatliche Institutionen eine solche „agile Souveränität“ in Fragen der Digitalisierung ausüben können, ist nicht zuletzt ihre eigene Handlungsstruktur.

Zu starr sind die politischen Willensbildungsprozesse, um eine entsprechende Agilität etwa in gesetzgebender Hinsicht zu ermöglich, zu behäbig die klassischen Verwaltungsstrukturen, um ein entsprechend souveränes Handeln auch bei sich schnell verändernden Rahmenbedingungen zu schaffen.

Manchmal ist eine solche Behäbigkeit sicherlich auch angebracht. Eine Demokratie, die grundlegende Entscheidungen etwa über den Verbleib im Euro oder gar die Einführung der Todesstrafe zukünftig im Schnellverfahren nach dem „Dash-Button-Verfahren“ vollziehen würde, wäre weder vorstellbar noch wünschenswert. Um in einer Demokratie zu einer vernünftigen Willensbildung zu kommen, braucht man tatsächlich Zeit und ein abgestuftes Verfahren, das den vernünftigen Austausch von Meinungen ermöglicht und Irreführungen zumindest begrenzt.

„Bestimmte Teile der politischen Willensbildung eignen sich nicht für eine Abstimmung nach dem Dash-Button-Verfahren.“ d.lead

Um auch in digitalen Zeiten dem eigenen Anspruch an eine transparente und effiziente Willensbildung gerecht zu werden, müssen staatliche Institutionen die Transparenz und Schnelligkeit ihrer Entscheidungsfindungsprozesse dennoch deutlich erhöhen.

Viele Gesetzgebungsprozesse dauern nicht zuletzt deshalb so lange, weil der Lobbyeinfluss bei diesen erheblich ist. Außerdem gibt es trotz entsprechender Informationsfreiheits- und Transparenzgesetze in der Praxis immer noch zu viele Möglichkeiten, diese zu umgehen. Im Ergebnis stellen Gesetzgebungsverfahren und Verwaltungsakte für viele Bürger immer noch recht intransparente Tatbestände dar. Dies ist einer der Gründe für die zunehmende Politikverdrossenheit der Menschen.

Dabei ist es durchaus angebracht, auch einmal neue Wege zu beschreiten. Warum etwa wurden die Verhandlungen über die Freihandelsabkommen CETA und TTIP nicht ganz offen im Internet dokumentiert und stattdessen hinter verschlossenen Türen geführt? Eine öffentliche Diskussion hätte es nicht nur eher ermöglicht, den einen oder anderen Kritiker zu überzeugen. Vielmehr hätten die beteiligten politischen Institutionen auch viel eher damit beginnen können, kritische Punkte, wie etwa den Ersatz staatlicher Gerichtsbarkeit durch Schiedsgerichte, zu erkennen und die Vertragswerke, dem evidenten „Volkeswille“ entsprechend rechtzeitig anzupassen.

Genau in dieser Hinsicht agieren viele staatliche Akteure jedoch noch ähnlich „unsouverän“ wie viele Manager. Mit dem Glauben, ihre Souveränität selbst in Zeiten der Digitalisierung vor allem durch eine falsche „Hinterzimmerpolitik“ am Leben erhalten zu können, erreichen sie genau das Gegenteil: Am Ende ist ihr Vorgehen weder souverän, noch agil. Viel agiler und gleichermaßen souveräner wäre es gewesen, die Bürger rechtzeitig in den Prozess der Willensbildung über mehr Freihandel zu integrieren. Dann hätten auch diejenigen Stimmen, die sich zunehmend gegen den Freihandel wenden, weniger Zulauf erhalten.

# Das richtige Maß an Sicherheit

Ähnlich paradox ist auch die Rolle des Staates in Zeiten zunehmender digitaler Sicherheitsbedrohungen zu sehen. Einerseits muss der Staat angesichts zunehmender Sicherheitsrisiken den Bürgern wieder das Gefühl vermitteln, dass er eine solche Sicherheit auch gewährleisten kann. Andererseits fällt dies staatlichen Institutionen in Zeiten der Digitalisierung immer schwerer.

Hierzu nochmals die Bundesregierung in ihrem digitalen Leitbild 2020:

„Der Staat steht auch in der vernetzten Welt in der Verantwortung, Gefahren und Kriminalität im Internet wirksam abzuwehren. Wir nehmen diese Verantwortung für die öffentliche IT­Sicherheit an und wollen unserer Aufgabe des Schutzes der Gesellschaft und Wirtschaft im digitalen Zeitalter gerecht werden. Dazu bedarf es einer strategischen Neuausrichtung der Cyber­Sicherheits-Architektur ebenso wie einer besseren Ausstattung der Sicherheitsbehörden in technischer und personeller Hinsicht.“

Maßnahmen wie Stärkung des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) oder von Bundespolizei und Bundeskriminalamt zu Themen wie Cybercrime und Cybersecurity sind hierfür sicherlich wichtig.

Damit sich die Bürger wirklich sicher fühlen, reicht das jedoch nicht aus. Erst wenn es gelingt, Straftaten wie die inzwischen schon alltägliche Datenhehlerei in umfassendem Maße einzudämmen, kann ein solches Sicherheitsgefühl entstehen.

Wie schwierig dies umzusetzen ist, belegt nicht zuletzt Paragraf 202d StGB, der erst im Dezember 2015 eingeführt wurde. Dieser soll zwar eigentlich die Datenhehlerei eindämmen. Er stellt jedoch gleichermaßen den Umgang mit „geleakten“ Daten unter Strafe, ohne angemessene Ausnahmeregelungen für die Presse zu schaffen. Ein Kollektiv aus Anwälten, Journalisten und Bloggern hat daher jüngst Verfassungsbeschwerde gegen diesen Paragraphen beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingereicht.

Nur weil etwas schwierig zu regeln ist, bedeutet dies jedoch nicht, dass man deshalb gänzlich auf jede Form von Regelung verzichten sollte. Sie muss nur so erfolgen, dass sie die damit zwangsläufig verbundenen Dilemmata so regelt, dass das richtige Maß zwischen Freiheit und Sicherheit gewahrt bleibt. Genau das ist mit dem Prinzip der „agilen Souveränität“ gemeint.

# Digitale Selbstbestimmung

Als Staat in digitalen Zeiten „souverän agil“ zu sein, heißt dabei auch das Thema „äußere Sicherheit“ in digitalen Zeiten neu zu definieren. Bereits heute werden Kriege in hohem Maße digital geführt. Wer genau solche Kriege vermeiden will, kommt daher um entsprechende digitale Sicherungsmaßnahmen nicht herum.

Wolf-Rüdiger Moritz, Chief Security Office bei Infineon, hat mit Recht darauf verwiesen, dass es auch in Friedenszeiten heute für uns mehr und mehr darum geht, die eigene digitale Selbstbestimmung zu erhalten.

„Digital sovereignty is the basis of our society’s digital self-determination. If we don’t achieve it, the reverse will apply: digital dependence.“ Wolf-Rüdiger Moritz, Chief Security Office bei Infineon

Eine solche „digitale Selbstbestimmung“ bedeutet allerdings auch, gerade wegen der eigenen Bündnisverpflichtungen notwendige Grenzen zu erkennen und die Einhaltung dieser Grenzen auch von den eigenen Bündnispartnern einzufordern.

Das eigentlich Tragische am NSA-Skandal besteht ja weniger darin, dass die NSA viele Bürger ausgehorcht hat, sondern dass sie mit ihrer Aushorchung selbst treuer Bündnispartner das Vertrauen der Bürger in eben dieses Bündnis unterminiert hat.

So stufen inzwischen viele Bundesbürger das Verhältnis Deutschlands zu den USA – unabhängig von der Trump-Wahl und bereits vor dieser – als eher schwierig ein. Kurz nach der Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten 2009 hatte noch eine überwältigende Mehrheit der Deutschen dieses Verhältnis als sehr gut eingeschätzt.

Jenseits der Kriegsführung geht es also in Friedenszeiten darum sicherzustellen, dass die eigene digitale Selbstbestimmung erhalten bleibt. Je mehr etwa die öffentliche Meinung durch Internet-Trolle und Falschmeldungen unterlaufen wird, umso mehr geht die eigene digitale Selbstbestimmung verloren.

„Staaten müssen ihren Bürgern mehr digitale Sicherheit bieten, ohne dabei in einen Kontrollwahn zu verfallen.“ d.lead

Wer seinen Bürgern auch in Fragen der digitalen Sicherheit wirklich Schutz bieten will, muss die Handlungsfähigkeit und Agilität des Staates in Sicherheitsfragen also deutlich erhöhen. Das darf dabei aber nicht so weit gehen, dass der Staat durch einen überzogenen Kontrollwahn und eine damit verbundene falsche Paranoia schließlich seine eigene Souveränität untergräbt.

# Der agile souveräne Staat

Agile Souveränität, ist also ein Leitbild, das unserer Auffassung nach auch sehr gut auf die Rolle des Staates in Zeiten der Digitalisierung passt: Der Staat und seine Institutionen müssen lernen, die eigene Agilität, Flexibilität aber auch Schnelligkeit zu erhöhen, nicht etwa um die staatliche Souveränität zu untergraben, sondern um in digitalen Zeiten überhaupt noch souverän handlungsfähig zu bleiben.

Dabei ist es wichtig, auch hier das richtige Verständnis von Souveränität zu beweisen: In Zeiten der Digitalisierung wirklich souverän zu sein, bedeutet nämlich nicht, Macht um jeden Preis auszuüben, sondern sich im konkreten Moment über die jeweils geltende Situation erheben zu können und souverän abzuwägen, welche Entscheidung in dieser Situation jeweils die richtige ist.

„Nicht Macht um jeden Preis auszuüben ist wirklich souverän, sondern sich im konkreten Moment über die jeweils geltende Situation zu erheben.“ d.lead

Gerade die Vertreter staatlicher Institutionen, die ja nicht nur ihr eigenes Wohl, sondern immer auch das Gemeinwohl zu vertreten haben, sollten gerade in hektischen Zeiten über diese Fähigkeit verfügen.

Ein Beispiel hierfür liefert beispielsweise der Internet-Browser „Tor“. Dieser gilt – Medienberichten zufolge – als eines der wichtigsten Einstiegstore in das sogenannte „Dark Internet“, den Teil des Internets also, in dem aufgrund innovativer Verschlüsselungs- und Servertechniken anonym mit Waffen und Drogen gehandelt wird, ohne dass die Beteiligten mit herkömmlichen Mitteln dabei entdeckt werden könnten.

Das „Dark Internet“ hat sich allerdings auch zu einem wichtigen Kommunikationsmedium für Freiheitskämpfer in Diktaturen entwickelt. Auch immer mehr Bundestagsabgeordnete nutzen diesen Browser inzwischen, nicht zuletzt aufgrund der verschiedenen Hacker-Attacken auf die Server des Bundestages, bei denen ihre eigenen vertraulichen Daten geleakt wurden.

Der Staat tut daher gut daran, richtig abzuwägen, wie agil und offen er sich derartigen wichtigen neuen Technologien gegenüber zeigt, und wo er die eigene scheinbare Souveränität in den Vordergrund stellt. Dies zeigt sich auch bei Themen wie dem jüngsten Hackerangriff „Pegasus“ auf das iPhone. Einem Bericht der Süddeutschen Zeitung zufolge stecken hinter diesem Angriff Hacker, die im Auftrag ausländischer staatlicher Player agiert haben. Auch westliche Staaten versuchen immer wieder, an die Handydaten z.B. von Whistleblowern zu kommen und zahlen dafür z.T. über eine Million Dollar.

Der Staat steckt hier zwangsläufig in einem Dilemma: Wenn er das gestiegene Sicherheitsbedürfnis seiner Bürger nur dadurch aufrechterhalten kann, dass er die Sicherheit im Umgang mit Daten selbst unterläuft, dann darf er sich nicht wundern, wenn dies schließlich zu einem Verlust des Glaubens in die Unabhängigkeit und Souveränität der eigenen staatlichen Institutionen führt.

Diesem Dilemma kann man nur entkommen, wenn man es tatsächlich mit analogen Mitteln jenseits simpler „Alles oder Nichts“ (0 oder 1) Logiken zu lösen versucht, z.B. mit einem offenen gesellschaftsübergreifenden Diskurs dazu, wie viel Anonymität und Freiheit im Netz unerlässlich sind und wo bzw. wie staatliche Einschränkungen hierzu notwendig sind.

Aktuell hat man allerdings eher den Eindruck, dass selbst so mancher Politiker und Verwaltungschef derartige Diskurse zu scheuen scheint und stattdessen eher in eine unkritische Digitaleuphorie einstimmt, wie sie sich z.B. in dem Hohelied auf eine völlig durchrationalisierte und durchdigitalisierte Verwaltung äußert.

Ohne Zweifel: Jeder der einmal Stunden im Einwohnermeldeamt verbracht und dort auf den nächsten freien Termin gewartet hat, um dann nicht selten mit seinem konkreten Anliegen von einem Amtszimmer zum nächsten geschickt zu werden, wird die Einführung digitaler Administrationsprozesse jubelnd begrüßen. Man muss allerdings auch aufpassen, dass dabei wichtige analoge Fähigkeiten nicht auf der Strecke bleiben.

Ähnlich wie der digitale CEO, die digitale Führungskraft in Unternehmen, müssen auch der digitale Politiker und der digitale Verwaltungschef erkennen, dass bei allen Vorteilen, die ein digitaler Staat, eine digitale Verwaltung mit sich bringen, der Erhalt von analogen Kompetenzen wichtig bleibt. Ohne diese läuft der Staat nämlich Gefahr seine eigene Glaubwürdigkeit zu unterlaufen.

Dies hat Hans Peter Bull, ehemaliger Landesminister, Datenschutzbeauftragter und Hochschullehrer für Öffentliches Recht, jüngst in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung folgendermaßen veranschaulicht:

„Selbstverständlich müssen sich die Behörden moderner Technik bedienen, um ihren Massenaufgaben gerecht zu werden. Sie tun dies seit Langem: Zahlungsvorgänge sind automatisiert, allgemein zugängliche Internetportale bieten Informationen und Formulare, und manche Kommunikationsverfahren via Internet erlauben sogar die Kooperation von Bürgern und Verwaltern. Man kann über das Netz Anträge stellen, mit öffentlichen Unternehmen korrespondieren, Termine festlegen und Auskünfte einholen. Die Finanzämter nehmen Steuererklärungen meist elektronisch entgegen und verarbeiten sie auch elektronisch. Rechtsanwälte müssen Klagen bei Gericht künftig elektronisch einreichen; dann werden auch Gerichtsverfahren teilweise automatisch abgewickelt. (...)

Die Protagonisten dieses Trends sind davon überzeugt, dass Vernetzung und Digitalisierung den Interessen der Bürger stärker entsprechen als die traditionellen Methoden der Verwaltung. Das aber ist durchaus fraglich. Zwar profitieren die ‚Kunden’ in mancher Hinsicht von der höheren Leistungsfähigkeit der Behörden; im günstigen Fall erhalten sie Steuerrückzahlungen, Gehälter und Beihilfen schneller. Sie können schneller erfahren, was in den Gesetzen steht und was die Verwaltung plant. (...)

Wenn es um die angemessene Anwendung von Rechtsbegriffen oder die Ausübung von Ermessen geht, nützt die automatisierte Datenverarbeitung wenig. Ein menschlicher Bearbeiter kann viele Anforderungen leicht erfüllen; er ist bei rechtlichen Ableitungen jedem Gerät überlegen. Die wirklich schwierigen neuen Aufgaben der Verwaltung – Umweltschutz, Wirtschaftsaufsicht, soziale Hilfen – werden auch mit noch so raffinierten automatischen Berechnungen nicht gelöst werden können. Künstliche Intelligenz ersetzt nicht soziale Kompetenz; technische Funktionsfähigkeit ist menschlicher Denk- und Urteilsfähigkeit unterlegen und wird es bleiben.

Die Politik, die für das Funktionieren der Verwaltung verantwortlich ist, sollte endlich erkennen, dass die Technik nur Hilfsmittel sein kann und dass es wichtiger ist, das notwendige Personal vorzuhalten und gut auszubilden.“

# Umgang mit der neuen Freiheit

„Was machen Millionen Taxi- und Lkw-Fahrer rund um die Welt, wenn autonomes Fahren zum Standard wird? Was wird aus Postboten, wenn die Auslieferung mithilfe autonomer Autos, Roboter oder Drohnen funktioniert?“

Dieser Frage ist Stephan Dörner unter dem provokanten Titel „Droht mit Digitalisierung jedem zweiten Job das Aus?“ Anfang 2016 in der WELT nachgegangen.

Seine Antwort: „Bislang galt: Wann immer in der Menschheitsgeschichte technischer Fortschritt Arbeit überflüssig gemacht hat, sind an anderer Stelle neue Arbeitsplätze entstanden – und am Ende war die Gesellschaft insgesamt wohlhabender. Doch zahlreiche Ökonomen und Zukunftsforscher, die sich intensiv mit den Folgen der Digitalisierung beschäftigen, glauben, dass es diesmal anders ausgeht.“

Sicherlich wird die zunehmende „Softwareisierung“ in der Welt nicht nur immer mehr bestehende Jobs „auffressen“, wie dies Internetunternehmer und Wagniskapitalgeber Marc Andreesen drastisch auf den Punkt gebracht hat, sondern auch neue schaffen. Die Frage ist nur, in welcher Zahl, mit welcher Qualifizierung und mit welcher Bezahlung.

„Software is eating the world.“ Marc Andreesen, Internet-Unternehmer und Wagniskapitalgeber

Mittelfristig stellt sich also auch aus staatlicher Perspektive die Frage, wie wir mit den neuen Möglichkeiten und Freiheiten umgehen wollen, welche die Digitalisierung uns bietet. Mehr Freizeit, weil viele von uns vielleicht alle in Zukunft weniger arbeiten müssen, bedeutet nicht zwangsläufig mehr Freiheit, vor allem nicht die Freiheit an einem gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, das zwangsläufig immer auch etwas kostet.

Am Ende wird die Digitalisierung wie bei jedem technologischen Wandel Gewinner und Verlierer mit sich bringen. „Einige werden auf der Strecke bleiben, weil sie mit der Geschwindigkeit auf der Welt einfach nicht mehr mitkommen“, so Joe Kaeser auf dem Wirtschaftsgipfel 2016 der SZ in Berlin.

Nachdem die Diskussion über das bedingungslose Grundeinkommen bisher eher unter Philanthropen wie dem Anthroposoph und Gründer der dm-Kette Götz W. Werner Anhänger fand, bekennen sich mit Timotheus Höttges von der Deutschen Telekom und Joe Kaeser von Siemens inzwischen immer mehr Manager zu dieser Forderung.

Ein Kernproblem dabei ist nur, dass mit der Forderung nach einem Grundeinkommen dieses noch keineswegs auf den Weg gebracht ist. Wer wird dafür zahlen (die Wirtschaft, die Bürger ...)? Wer schafft dafür den richtigen Rahmen? Und wie verhindert man, dass dabei eine Zweiklassengesellschaft herauskommt? Alles Fragen, die deutlich stärker angegangen werden müssten, als dies so manche Gedankenskizze aus den Partei- und Gewerkschaftslaboren aktuell erkennen lässt.

Dass die Diskussion zur Zukunft der Arbeit nicht bei reinen Geldfragen stehen bleiben sollte, zeigt die Tatsache, dass zukünftig mehr und mehr auch die sogenannten „white collar jobs“ (Angestellten-, Verwaltungs-, Managementaufgaben) von der zunehmenden „Dematrialisierung“ unserer Arbeits- und Produktionsweisen (Ralf T. Kreutzer und Karl-Heinz Land) betroffen sein werden. Wie die japanische Tageszeitung Mainichi jüngst berichtete, will bspw. das japanische Versicherungsunternehmen Fukoku Mutual Life Insurance fast 30% seiner Mitarbeiter in der Abteilung Schadensbemessung durch künstliche Intelligenz ersetzen.

Das Beispiel Fukoku Mutual Life Insurance zeigt, dass zukünftig auch immer mehr Menschen von der Digitalisierung betroffen sein werden, die aufgrund ihres Bildungsgrades eigentlich eher prädestiniert sind, mit den digitalen Entwicklungen Schritt zu halten.

Erste Ideen, um dem zu begegnen, sind die Einführung der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn-/Gehaltsausgleich, die aktuell vielfach diskutiert wird. Eine andere Idee ist, die Arbeit von Maschinen zu besteuern: Für jeden Euro, den eine Maschine erwirtschaftet, gehen 10 oder mehr Cent an den Fiskus und finanzieren dann das Grundeinkommen der Bürger. Werden sich die Menschen also zukünftig nur noch ihren Hobbys widmen, weil Maschinen und Computer die Arbeit erledigen? Wird Arbeit irgendwann zum Hobby?

Diese erneut ziemlich „analogen“ Fragen müssen dringend geklärt werden. Dafür muss allerdings nicht nur die Politik den Rahmen schaffen. Auch die Wirtschaft muss sich an diesen Diskussionen zukünftig aktiver beteiligen. Sonst entzieht sie sich irgendwann selbst die Basis. Was bringt es schließlich, wenn uns bald Maschinen die Arbeit völlig abnehmen, viele von uns aber nicht mehr das nötige Geld verdienen werden, um die damit geschaffen Waren zu kaufen.

# Rettung der Stammtischkultur

Einen ganz anderen Aspekt, der die Bedeutung des Erhalts analoger Fähigkeiten in digitalen Zeiten unterstreicht, hat jüngst Frank Perganed in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung unter der Überschrift „Deutschland braucht wieder Stammtische“ hervorgehoben:

„Der Populismus in Deutschland blüht. (...) Aber den Stammtisch gibt es kaum noch. (...) Am Stammtisch konnte man sich Luft machen, auf den Tisch hauen und bierselig streiten. Das war reinigend ...“

Im Internet fehlt „außer dem Tisch auch der Stammtischpartner, der es vielleicht ein wenig anders sieht, mit dem man sich streitet, gerne auch einmal laut. Und von dem man zur späten Versöhnung fröhlich ein Bier serviert bekommt.“ Stammtische im Internet wie auf der Straße neigen dagegen dazu, beim „ewigen Gemaule und bei der schlechten Laune“ zu verharren.

Im Fehlen derart „geschützter Räume“, wie es der Stammtisch früher war, ist eine der Kernherausforderungen der politischen Kultur in digitalen Zeiten zu sehen: Eine erhöhte Transparenz, die positiv ist, wenn sie beispielsweise dazu beiträgt, politische Teilhabe zu vereinfachen und politische Skandale schneller aufzuklären, verkehrt sich ins Gegenteil, wenn dadurch die Privatsphäre des Einzelnen wie auch von Gemeinschaften zerstört wird.

Politik braucht geschützte Räume, wie der Stammtisch einer ist, bei dem nach dem Motto „die Gedanken sind frei“ nicht jedes Wort „politically correct“ sein muss und gleich auf die Goldwaage gelegt wird.

Genau dieser reinigende Mechanismus von Stammtischen wird allerdings durch die Funktionsweise von Suchmaschinen und sozialen Netzwerken konterkariert: Man bekommt dort nämlich – anders als beim klassisch analogen Stammtisch – vor allem die Informationen zu sehen, welche die eigene Meinung widerspiegeln: Es entsteht der sogenannte „Echokammereffekt“.

„Am Ende bekommt man nur noch seine eigenen Meinungen widergespiegelt. Das bewirkt eine gesellschaftliche Polarisierung, also die Entstehung separater Gruppen, die sich gegenseitig nicht mehr verstehen und vermehrt miteinander in Konflikt geraten. So kann personalisierte Information den gesellschaftlichen Zusammenhalt unabsichtlich zerstören. Das lässt sich derzeit etwa in der amerikanischen Politik beobachten, wo Demokraten und Republikaner zusehends auseinanderdriften, so dass politische Kompromisse kaum noch möglich sind. Die Folge ist eine Fragmentierung, vielleicht sogar eine Zersetzung der Gesellschaft.“

# Kreative Neuerfindung statt schöpferische Verstörung

Es wäre sicherlich naiv, unsere Betrachtungen zu den Anforderungen an eine gelingende Staatskunst in Zeiten der Digitalisierung mit einer Aufforderung zur Wiederbelebung einer „analogen Stammtischkultur“ zu beenden. Vielmehr verlangt aus unserer Sicht die Digitalisierung tatsächlich nach einer fundamentalen Neuorganisation von Politik schlechthin.

„Die digitale Logik der agilen Netzwerkbildung ist inkompatibel mit dem Betriebssystem des Industriezeitalters und seiner trägen, vertikalen Massenorganisationslogik.“ Christian Grünwald, Z-Punkt

Der klassische Parteienstaat, die klassische Logik der Organisation von Massen, die Macht des Faktischen, all diese Grundgesetze herkömmlicher Demokratien werden in Zeiten der Demokratisierung zunehmend in Frage gestellt.

Um das zu erkennen, muss die Politik aber zunächst einmal ihre überzogene Hochachtung gegenüber der Digitalisierung ablegen, um daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dies hat der Politologie Christian Grünwald von der Kölner Beratung Z-Punkt jüngst in einem Kommentar für die Süddeutsche Zeitung sehr schön beschrieben:

„Die Theorie der ‚schöpferischen Zerstörung’ des österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter wurde mit einer beinahe religiösen Innovationsgläubigkeit verinnerlicht – Verdrängungswettbewerb und Angriff auf das Etablierte als kategorischer Imperativ.

Diese Innovationen haben Kulturtechniken verändert, die Art zu kommunizieren, sich zu organisieren, zu informieren, zu erinnern und zu orientieren. Kurzum: Sie haben ganze Gesellschaften verändert.

Die digitale Logik der agilen, fluiden horizontalen Netzwerkbildung ist inkompatibel mit dem Betriebssystem des Industriezeitalters und seiner trägen, vertikalen Massenorganisationslogik. Infolge der digitalen Revolution geraten diese Massenorganisationen und vertikale Hierarchien immer mehr unter Druck – die Krise der Volksparteien und repräsentativen Demokratie, mitsamt des ihr nachgelagerten Soziotops der Experten aus Wissenschaft und Journalismus, ist Ausdruck dieser Entwicklung. So haben gegenwärtig nur noch neun Prozent der Amerikaner Vertrauen in den Kongress.

Die Philosophie des permanenten Angriffs auf das Etablierte überträgt sich nun auch auf die Politik. Populistische Parolen verfangen immer stärker (...). Die Ochsentour durch eine politische Partei ist ein Relikt des Industriezeitalters, als man sich in Festanstellung bei einer Firma ein Arbeitsleben lang nach oben diente.

Die Logik der digitalen Dienstleistungsgesellschaft folgt einem viel höheren Grad an Flexibilität, die politische Teilhabe wird unverbindlicher, spontaner und unberechenbarer.

Langfristige Bindungen fallen weg, die Gesellschaften werden granularer und differenzieren sich weiter aus. Meinungen und Programme werden zunehmend durch Emotionen ersetzt – Hypes und Skandalisierung sind die Folge schneller Erregungswellen eines hochvernetzten Systems.

Rassismus, Sexismus, Beleidigung: Der Populist Trump nutzte geschickt die Erregung der Netzwelt, um sich die mediale Aufmerksamkeit zu sichern. Je stärker er mit den etablierten Konventionen brach, umso mehr stieg die Zustimmung und Begeisterung seiner Anhänger.

In einem gewissen Sinn agierte er genauso wie die Ubers, Airbnbs und Facebooks gegenüber bestehenden Regeln und Gesetzen – erst mal eigene Regeln schaffen und dann sehen, ob es gesetzeskonform ist. Und hier wie dort antwortet der mündige Bürgerverbraucher nicht etwa mit Boykott, sondern mit begeisterter Nutzung der Angebote.

Ganz nebenbei beseitigte Trump ein etabliertes System, ganz im Sinne der Valley-Philosophie: das der unentwegt Wahlkampfspenden sammelnden Super-Pacs. Wer laufend provoziert, ist auch laufend auf allen Kanälen präsent. (...)

Die Netzneutralität sorgt dafür, dass ein Blog von und für Verschwörungstheoretiker per se genauso gewichtet wird wie die Webseite der New York Times. Zu jeder Wahrheit des vermeintlichen Establishments findet sich im Netz eine Gegenwahrheit. Dies macht postfaktische Politik erst möglich, weil etablierte Quellen nicht mehr glaubhaft erscheinen.

Und selektive Algorithmen führen zu Filter Bubbles, in denen keine Konfrontation mit Gegenmeinungen stattfindet. Ein solcher Algorithmus, der zu wissen glaubt, was der Nutzer lesen oder sehen möchte, ist jedoch nur eine Fortführung kognitiver Verzerrungen des Menschen.

Die Philosophie des Silicon Valley, die Lust auf Verdrängung und Kaputtmachen des Etablierten, der unbedingte Reiz des Neuen, das mag in der Wirtschaft unter Ausklammerung sozialer Folgekosten funktionieren, in der politischen Sphäre ist es eine Katastrophe.

Das feudale System war ein Abbild der Agrarwirtschaft, der effiziente Bürokratiestaat mit auf Dauerhaftigkeit angelegten Institutionen eines der Industrialisierung. Wie ein Staatsgebilde aussieht, das eine disruptive Wissensgesellschaft spiegelt, ist zurzeit noch nicht einmal im Ansatz erkennbar.“

Auch wir haben leider genauso wenig wie Christian Grünwald ein Patentrezept dafür, wie so ein neues Staatsgebilde aussehen könnte. Vielleicht ist es aber auch falsch, gleich nach einem solchen neuen Staatsgebilde zu verlangen, wenn sich nicht zu allererst unser Selbstverständnis von Politik und das Selbstverständnis der Politiker selbst ändert.

„Demokratie muss in Zeiten der Digitalisierung anders organisiert werden.“ d.lead

Demokratie muss in Zeiten der Digitalisierung tatsächlich anders organisiert werden. Sie verlangt nach mehr Transparenz, mehr Mitmachmöglichkeiten, nach mehr erkennbarer Agilität, wie sie sich z.B. in der wachsenden Zahl bürgernaher Portale offenbart.

Alle Eigenschaften, die bisher Politik ausgemacht haben – mühsame Karrierewege in den Parteien, Machtspiele, Intrigen und langwierige Willensbildungsprozesse, die letztendlich doch nicht immer zu wirklich objektiven und demokratischen Entscheidungen geführt haben, sondern häufig leider auch zum Gegenteil davon – stehen wichtigen digitalen Neuentwicklungen wie etwa einer verstärkten zivilgesellschaftlichen Selbstorganisation massiv entgegen.

Vor allem sind es jedoch viele Politiker und Verwaltungsbeamte selbst, ihre ausgeprägten Egos, ihre Inflexibilität, ihre Unfähigkeit Macht abzugeben oder zu teilen, die einer Erhöhung der staatlichen Effizienz und Demokratiefähigkeit durch die Digitalisierung im Wege stehen.

Genau diese Politiker und Beamte darf es nicht verwundern, wenn Menschen, die sich nicht nur von der Wirtschaft, sondern auch von Politik und Verwaltung zunehmend abgehängt fühlen, auf die Straße gehen und grölen: Wir sind das Volk.

Die Hoffnung, digitale Techniken würden dem Volk quasi automatisch mehr Möglichkeiten der Teilhabe am politischen Willensbildungsprozess ermöglichen, trügt jedenfalls genauso wie die Utopie, unsere Grundrechte könnten durch Digitalstrategen, Ingenieure oder Software-Entwickler definiert oder gar verteidigt werden. Dazu sind die gesellschaftlichen Herausforderungen, denen wir uns in Zeiten der Digitalisierung gegenübersehen, einfach zu komplex.

„Sie (die Freiheit) kann nur durch politische Prozesse und nicht von Ingenieuren und Software-Entwicklern oder den Top-Strategen von Weltkonzernen definiert werden.“ Dr. Alexandra Borchardt, Chefin vom Dienst, Süddeutsche Zeitung

„Einige Dinge sind also zu tun, damit die Freiheit in der digitalen Welt ihren Namen verdient. Zunächst brauchen Menschen eine wirtschaftliche Grundlage, um ihre Rechte und Freiheiten wahrnehmen zu können. Der Kampf gegen das Zerfallen der Gesellschaft, die Reform der Bildung und das Ringen um die Teilhabe am Wirtschaftsleben sind zentrale Aufgaben. Außerdem geht es darum, Vielfalt zu akzeptieren. Freiheit jenseits des Minimum-Standards der Menschenrechte ist kulturell bedingt. Sie kann nur durch politische Prozesse und nicht von Ingenieuren und Software-Entwicklern oder den Top-Strategen von Weltkonzernen definiert werden. Hier sind die demokratischen Institutionen gefragt (...) Das Lenkrad wird gebraucht.“ (Dr. Alexandra Borchardt)

Letzten Endes bleibt tatsächlich die Kernfrage, in welchem Land, in welcher Form von Staat, in welcher Gesellschaft wir, das Volk, zukünftig leben wollen.

In einer Gesellschaft, in der digitale Technologien das Leben vereinfachen, schneller, effizienter machen? Gern.

Oder in einer Gesellschaft, die zwar die Vorteile der Digitalisierung erkannt hat, es aber einfach nicht in den Griff bekommt, dafür einen vernünftigen Rahmen zu schaffen, in der Datenhehlerei, Wirtschaftskriminalität und persönliche Verleumdungen weiter zunehmen werden, in welcher der Staat seine Ordnungshoheit immer schwerer ausüben kann und Bürger mehr und mehr auf sich selbst gestellt sind? Schon weniger.

In gar einem Staat, in dem es keinen Platz mehr für differenzierte Information und offene Debatten gibt, keinen Raum mehr für soziale Kompetenz, menschliches Denk- und Urteilsvermögen, in dem Verwaltungsentscheidungen und Gerichtsurteile von Maschinen gefällt und in der für die digitale Wirtschaft ein nahezu rechtsfreier Raum herrscht? Wohl kaum.

Es liegt an uns, für die von uns gewollte Entwicklung die richtigen Weichen zu stellen und entsprechende fundamentale Transformationsprozesse in Politik und Verwaltung zu initiieren. Schließlich bleibt der Staat auch in digitalen Demokratien immer eine „res publica“, sprich: eine Angelegenheit von uns allen.