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Harder, faster, stronger

# Leben in digitalen Zeiten

Wir leben in digitalen Zeiten.

Die Digitalisierung verändert dabei unser Leben in einem Maße, wie wir es uns vor einigen Jahren noch nicht haben vorstellen können:

„Berufstätige, deren einziges Handwerkszeug das Smartphone ist. Angestellte, die sich von zu Hause per Video-Konferenz ins Büro klicken. Autos, die ohne Fahrer einparken können. Roboter und Algorithmen, die körperliche und geistige Arbeiten übernehmen, während wir am Badesee liegen und dort übers Tablet einkaufen oder den Kühlschrank, die Kaffeemaschine, Terrassentür und Lampen daheim dirigieren“, so Viola Schenz jüngst in der SZ.

Die digitale Transformation ist längst keine Zukunftsvision mehr. Sie ist heute schon im Hier und Jetzt angekommen.

„Everything that can be digitized, will be digitized.“ Nicolas Negroponte, Co-Founder MIT Media Lab

# Angriff der Einhörner

Für die Wirtschaftswelt bleibt dies nicht ohne Konsequenzen. Neue Unternehmen entstehen praktisch sekündlich. Einige davon werden innerhalb von Monaten zu vielversprechenden Einhörnern („Unicorns“). So werden Start-ups bezeichnet, die bereits vor dem Börsengang mit mehr als einer Milliarde Dollar bewertet werden. Nicht wenige der etablierten Unternehmen werden durch diese Unicorns in ihren ureigensten Kompetenzfeldern angegriffen.

Aber auch die Start-ups selbst stehen einem immer härteren Verdrängungswettbewerb gegenüber. Kaum sind sie selbst auf dem Markt, wird ihr Geschäftsmodell schon wieder von anderen kopiert oder disruptiv unterlaufen.

Um in diesem digitalen Hyperwettbewerb überleben zu können, müssen Unternehmen eine enorme Flexibilität und Anpassungsfähigkeit besitzen.

# Schöne neue Arbeitswelt

Doch nicht nur die Unternehmenswelten, auch die Lebens- und Arbeitswelten werden sich durch die Digitalisierung fundamental verändern.

Einige Berufsgruppen wird es vermutlich bald schon nicht mehr geben. Dazu zählen z.B. Lageristen, die per Gabelstapler Hochregale bestücken, oder Ableser, die zu den Kunden nach Hause oder ins Büro kommen, um den Energieverbrauch abzulesen.

Doch anders als bisher sind nicht nur einfache Jobs durch die Automatisierung bedroht, es trifft nun auch die White-Collar-Jobs, wie Sachbearbeiter, Accountants oder Juristen. Dafür entstehen viele neue Berufsgruppen, z.B. Plattform-Manager, Big Data Spezialisten, Bot-Entwickler, KI-Experten, IT-Security-Spezialisten etc.

Kurz zusammengefasst: Die Digitalisierung wird die Art, wie wir leben, arbeiten und Wirtschaft betreiben, fundamental verändern.

„Durch Vernetzung, Digitalisierung und Globalisierung verändert sich massiv die Art, wie wir leben und wie wir arbeiten.“ Reinhard Ploss, CEO Infineon Technologies AG

Was eine vernünftige Auseinandersetzung mit der „digitalen Revolution“ so schwierig macht, ist die Tatsache, dass dabei häufig mit Übertreibungen gearbeitet wird. Alles wird und muss sich sofort und ohne unser Zutun ändern.

Dabei wird dann meist auch so getan, als sei die Digitalisierung wie ein Zug, der zwangsläufig nur in eine Richtung fährt. Das stimmt jedoch nicht. Die digitale Revolution muss wie jede Form des technologischen und gesellschaftlichen Wandels aktiv gestaltet werden. Dazu muss man jedoch erst einmal verstehen, dass die Digitalisierung für weit mehr steht, als nur die Nutzung neuer digitaler Technologien.

# Jenseits der Technik

So sehr die digitale Transformation auch aktuell bereits die Diskurse in Medien und Wirtschaft bestimmt, umso mehr fällt auf, wie einseitig – nämlich vornehmlich technikorientiert – diese Diskurse geführt werden.

Durch die starke Technikfixierung wird leider der Blick auf andere Phänomene verstellt, die mit der Digitalisierung eng verknüpft sind und die auf das Wirtschaftsleben einen mindestens genauso starken Einfluss haben.

# Rasende Dynamik

Da ist zum einen der allgemeine wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel. Diesen hat es zwar immer gegeben, durch die Digitalisierung hat die Dynamik dieses Wandels allerdings erheblich zugenommen.

War es Anfang des letzten Jahrhunderts das Fließband, so sind die Arbeitsprozesse in den letzten zwei Jahrzehnten durch neue Technologien wie flexible Fertigungsinseln, CAM-Maschinen und Just-in-Time-Produktionsprozesse weiter verkürzt und flexibilisiert worden.

Diese Entwicklung, bei der digitale Technologien bereits eine erhebliche Rolle gespielt haben, wird in Zukunft durch die fortschreitende Automatisierung und Vernetzung (Stichworte Industrie 4.0 und IoT) weiter voranschreiten.

Nicht nur die Arbeitsprozesse haben sich jedoch beschleunigt. Auch die Innovationszyklen werden immer kürzer. Betrug die Halbwertzeit, bis eine neue Technologie eine Marktdurchdringung von 50% erreicht hat, beim Telefon noch ca. 50 Jahre, beim Farbfernseher noch ca. 20 Jahre und beim Internet noch 10 Jahre, so waren dafür bei neuen digitalen Plattformen wie Facebook, Twitter oder Instagram nur noch wenige Jahre notwendig.

Auch im Alltagsleben hat die Beschleunigung deutlich um sich gegriffen. Wo früher Geschäftsbriefe und E-Mails geschrieben wurden, nehmen heute selbst im Geschäftsleben ad hoc abgesetzte „Instant Messages“ per SMS, Whatsapp oder Twitter zu.

Zwar hilft die Digitalisierung vordergründig auch Zeit zu sparen. Sie zwingt uns aber gleichermaßen in einen Prozess des „Hier“, „Jetzt“ und „Sofort“. „Always on“ ist nicht umsonst zum Modewort der Digitalisierung geworden.

# Weltbeben

Dass dies nicht ohne Konsequenzen für die Art unseres Zusammenlebens und Zusammenarbeitens bleibt, ist logisch. Immer schneller scheint sich die innere Uhr des Alltags zu drehen. Als immer „härter“ und „unerbittlicher“ nehmen viele Menschen ihren privaten und beruflichen Alltag heute wahr, obwohl es ihnen in Zeiten des gestiegenen Wohlstands doch eigentlich besser gehen müsste als früher. Schuld daran ist nicht zuletzt die zunehmende Dynamik, die nicht nur, aber auch durch die neuen digitalen Technologien potenziert wird:

 „Der Trend der Gegenwart ist harder, better, faster, stronger. Das sieht man nicht nur im digitalen Bereich, sondern auch daran wie Transport und Produktion oder auch Drogenkonsum (i.e. Koffein, Energydrinks, Ecstasy) alle auf ein schnelleres Tempo setzen“, so der deutsche Soziologe und Politikwissenschaftler Prof. Dr. Hartmut Rosa jüngst auf einer Veranstaltung des Hertie Forum in Berlin.

„Der Trend der Gegenwart ist harder, better, faster, stronger.“ Prof. Dr. Hartmut Rosa, Soziologe

„Harder, better, faster, stronger“ ... Diese Logik kennen die meisten von uns auch aus dem Wirtschaftsleben. Ein immer härter werdender Wettbewerb, Streben nach kontinuierlicher Verbesserung, immer kürzer werdende Produktlebenszyklen und ein Markt, der häufig nur noch das Gesetz des Stärkeren kennt.

Gabor Steingart, Vorsitzender der Geschäftsführung der Verlagsgruppe Handelsblatt und Herausgeber von Deutschlands größter Wirtschaftszeitung, spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „Weltbeben“ und von einem „Leben im Zeitalter der Überforderung“:

„Die Gleichzeitigkeit der politischen Problemlagen, die Hochgeschwindigkeit des Digitalzeitalters, ein kapitalistisches System, das in Teilen Maß und Mitte verloren hat und ein tradiertes Parteiengefüge, das seine Dominanz verliert, überfordern derzeit die Problemlösungskompetenz“, so Steingart in einem Interview zu seinem neuen Buch.

Eine wichtige Grundhypothese von Gabor Steingart lautet dabei: „Nur wer seine Überforderung versteht, kann sie überwinden.“

„Nur wer seine Überforderung versteht, kann sie überwinden.“ Gabor Steingart, Vorsitzender der Geschäftsführung, Handelsblatt Gruppe

Eine wichtige Voraussetzung für ein solches „Verstehen“ ist dabei die Erkenntnis, dass man auf Geschwindigkeit nicht zwangsläufig mit noch mehr Geschwindigkeit reagieren sollte (oder auf bereits bestehende Überforderung mit noch mehr Überforderung).

Um Joe Kaeser, den Vorstandschef von Siemens zu zitieren, geht es aus unternehmerischer Perspektive bei der Digitalisierung ohnehin auch weniger um Geschwindigkeit, sondern vielmehr um Anpassungsfähigkeit. Aber dazu später mehr ...

# Zunehmende Dichte

Ein zweites wichtiges Phänomen, das es auch ohne die Digitalisierung bereits gegeben hat, welches aber durch diese enorm potenziert worden ist, ist das Phänomen der zunehmenden Vernetzung, Intensität und Dichte.

Wir leben in einer immer volleren, immer dichteren, immer stärker vernetzten, von immer mehr Reizen überfluteten Welt. Bereits heute beträgt das Volumen der jährlich über das Internet transferierten Daten 1 Zettabyte. Das sind 1000 Exabytes, 1 Milliarde Terabytes oder 1 Trillionen Gigabytes. Cisco erwartet, dass sich dieses Volumen bereits 2020 mehr als verdoppelt haben und dann bei 2,3 Zettabytes liegen wird.

Hierbei handelt sich nur um die Summe der tatsächlich über das Netz übertragenen Daten. Die Summe der jährlich produzierten bzw. gespeicherten Daten ist deutlich höher. Lag diese 2013 noch bei ca. 4,4 Zettabytes und 2015 bei ca. 8,5 Zettabytes, so gehen die Experten von IDC davon aus, dass dieses Volumen Ende 2020 bereits bei 44 Zettabytes liegen wird.

Abb. 1: So schnell wächst das Datenvolumen – Ein Beleg von vielen für die exponentiellen Wirkungen der Digitalisierung (Quelle: IDC)

Die damit verbundene Dichte an Informationen bietet enorme Möglichkeiten. Sie bringt aber automatisch auch das Problem von Kapazitätsengpässen mit sich. Diese Daten müssen nämlich nicht nur prozessiert und gesichert werden. Man muss sie auch verarbeiten, auswerten und die richtigen Schlüsse daraus ziehen können.

Der Soziologe Hartmut Rosa sieht daher auch weniger in der Beschleunigung an sich, sondern in einer Logik des „Mehr“ die Hauptherausforderung der Digitalisierung. In einem Interview mit dem Portal „Planet Wissen“ stellt er dazu fest: „Diesen Eindruck (dass der Computer das Fließband unserer Tage ist) hat man tatsächlich (...) Ich glaube aber, das ist ein Fehleindruck. Denn der Computer zwingt uns ja nicht, mehr zu tun oder schneller zu leben.

Das Problem liegt darin, dass wir mit dem Computer Aufgaben schneller bewältigen können, gleichzeitig können wir aber auch viel mehr Aufgaben erledigen. (...) Das bringt den Zeitdruck, obwohl der Computer schnell ist. (...). Das scheint auch einer der Gründe zu sein, warum heutzutage eine Menge Menschen das Gefühl haben, ihr Zeitmanagement gerate aus den Fugen. Das hängt mit der Digitalisierung der Welt zusammen, die in den 1990er Jahren begonnen hat.

Seitdem haben wir viele Kommunikations- und Informationsprozesse umgestellt. Die wurden extrem beschleunigt. Das hat erst die Möglichkeit geschaffen, viel mehr Aufgaben zu bewältigen. Der Zeitgewinn, den der Computer bringt, schmilzt dabei allerdings dahin. Und das bringt den Menschen an den Rand seiner Belastungsfähigkeit.“

# Hating the internet?

Inzwischen häufen sich die Diagnosen, die sich nicht mehr nur mit den Vorteilen, sondern auch mit den Nachteilen dieser Entwicklung auseinandersetzen.

Am weitesten geht dabei der amerikanische Autor Jarett Kobek. In seinem vor Kurzem auch auf Deutsch erschienenen Polemik „I hate the internet“ ("Ich hasse dieses Internet) beschreibt Kobek die Empörung einer Gemeinschaft, die sich durch die permanente Präsenz des Internet so fühlt, „als würde man zu Boden getreten und dann immer noch getreten, als man schon am Boden lag. Wieder und wieder und wieder und wieder.“

Dieses Urteil mag harsch klingen. Aber seien wir mal ehrlich: Haben wir uns nicht schon alle einmal so gefühlt, wenn wir kurz vor Büroschluss noch die gefühlt 523. Mail an diesem Tag erhalten, auf der wieder einmal 20 Personen im Verteiler stehen, denen man auch garantiert sofort antworten muss? Dann entsteht das, was eine amerikanische Punk Band zu ihrem Namen gemacht hat: Rage against the machine.

Wobei das Internet mit seinen Möglichkeiten nicht das Problem ist, sondern unser Umgang mit dieser Komplexität.

# Scheinbare Transparenz

Schuld an der zunehmenden Überforderung durch die Digitalisierung ist nicht zuletzt ein drittes Phänomen, das mit denen der Dynamik und Dichte eng verbunden ist: das der scheinbaren Transparenz. Was früher noch still und heimlich im eigenen Kämmerlein stattfand, wird heute – ob man will oder nicht – sehr schnell in die digitale Öffentlichkeit gezogen und dort nicht nur verbreitet und bewertet, sondern häufig auch „umgewertet“.

In Kobek’s Zukunftsroman geschieht dies im Rückblick beispielsweise über Twitter, die Kobek zugespitzt als „Plattform“ beschreibt, „auf der Teenager andere Teenager in den Selbstmord“ treiben und „dabei wie besessen“ sind „von prominenten Eintagsfliegen". Die Wirtschaft sieht Kobek dabei in einem erheblichen Maße mitverantwortlich dafür, „dass die Leute eine möglichst große Menge Schwachsinn in ihre Computer und Handys tippten“ und am Ende zu einem „möglichst scheußlichen Verhalten“ verführt werden.

Das Interessante daran: Es braucht heute keinen „Digital Nerd“ wie Kobek mehr, um derartige Problemdiagnosen zu stellen. Selbst konservative Zeitungen wie die WELT oder die NZZ bedauern inzwischen die Wiedergeburt des „mittelalterlichen Rituals des An-den-Pranger-Stellens“ durch einen alles andere als transparenten, weil gesichtslosen „digitalen Mob“, der die neuen technologischen Möglichkeiten für sich nutzt, um im eigentlich transparenten Netz durch massive Desinformation für immer mehr Intransparenz zu sorgen.

# Das gläserne Unternehmen

Alles nur Dinge, die vor allem gesellschaftliche Relevanz besitzen, aber für die Führung von Unternehmen von eher untergeordneter Bedeutung sind?

Wohl kaum. Die Unternehmen selbst sehen sich immer größeren Herausforderungen im scheinbar so transparenten Netz gegenüber: „Der gläserne Mitarbeiter“, „das gläserne Unternehmen“, „der gläserne Chef“ ... all dies sind Überschriften der letzten Monate zum Thema Digitalisierung. Sie belegen, wie sehr die zunehmende Transparenz – ob gewollt oder ungewollt – das Wirtschaftsleben derzeit verändert und dabei nicht immer nur zu mehr Wahrheit und Klarheit im Wirtschaftsleben führt, sondern eben auch zu mehr Unsicherheit und Instabilität.

# Digitale Hybris

Hier offenbart sich ein Phänomen, das wir „digitale Hybris“ nennen. Unter „Hybris“ (griechisch für Übermut, Anmaßung) wird für gewöhnlich eine extreme Form des Zuviels, der Zügellosigkeit und der Selbstüberschätzung bezeichnet. Der Begriff wird in der griechischen Mythologie dabei für unterschiedlichste Phänomene verwendet, z.B. für wuchernde Pflanzen oder über die Ufer tretende Flüsse.

Neue Technologien haben immer schon derart hybrisartige Eigenschaften besessen. Sie können das Leben einfacher, sorgloser, effektiver machen, aber auch zu neuen Komplexitäten, Ineffizienzen und zu ernsthaften Problemen führen, vor allem dann, wenn man sich ihnen einfach kritiklos verschreibt, ohne dabei auch die damit verbundenen Risiken zu erkennen.

„Wir dürfen nicht der digitalen Hybris verfallen.“ Dr. Willi Steul, Intendant Deutschlandradio

Diesen Zusammenhang hat der österreichisch-britische Philosoph Sir Karl Raimund Popper schon 1964 folgendermaßen beschrieben: „Die Hybris, die uns versuchen lässt, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln.“

Soweit, nämlich die Erde in eine Hölle zu verwandeln, hat es die Digitalisierung noch nicht gebracht. Noch halten sich Chancen und Risiken in etwa die Waage. Ob das allerdings so bleibt, hängt nicht zuletzt davon ab, wie wir Menschen damit umgehen.

# Digitalisierung als Chance

Wo die Chancen der Digitalisierung liegen, ist offensichtlich: Die neuen digitalen Technologien, von einfachen Softwarelösungen und dem World Wide Web, über Mobile Commerce und Big Data bis hin zur künstlichen Intelligenz, der digitalen Fabrik, Landwirtschaft 4.0, Advanced Robotics und dem Internet of Things, können Unternehmen, Volkswirtschaften und der globalen Ökonomie als Ganzes helfen, deutliche Produktivitätsgewinne zu erzielen. Schätzungen der Europäischen Kommission gehen davon aus, dass die positiven Wachstumseffekte für das Bruttoinlandsprodukt, die allein durch eine erfolgreiche Digitalisierung ausgelöst werden, jährlich über 1% betragen könnten.

Die Unternehmensberatung Accenture schätzt in ihrer Studie: „Digital Disruption: The Growth Multiplier“ sogar, dass durch entsprechende Anpassungen bei Investitionen in digitale Skills, digitale Technologien und digitale Akzeleratoren das „Gross Domestic Product“ (GDP; deutsch für BIP) der USA 2020 jährlich um 2,1% höher liegen wird, als ohne diese Effekte.

# Wachstums- oder Schrumpfkurs?

Schaut man auf die wirtschaftliche Realität, so sehen die nackten Zahlen allerdings deutlich anders aus. Es war kein wirtschaftskritisches Medium, sondern das Handelsblatt, das unter dem Titel „Die Effizienzlüge“ vor geraumer Zeit aufgezeigt hat, dass das Produktivitätswachstum in Deutschland seit den 1970er-Jahren nicht gestiegen, sondern von 4% auf gut 1% zurückgegangen ist. Selbst die USA, die mit ihren zahlreichen Silicon-Valley-Unternehmen als Vorreiter der Digitalisierung gelten, haben aktuell mit einer schwächelnden Volkswirtschaft zu kämpfen „Also eher Schrumpf- statt Wachstumskurs“, wie das Handelsblatt schreibt?

# Alle wollen nur noch Hightech sein

Ähnlich skeptisch hat sich Anfang 2016 Sven Prange, Mitglied der Chefredaktion der Wirtschaftswoche geäußert. Zum Digitalisierungsrausch beim World Wide Forum in Davos hat er Folgendes beobachtet: „Keiner will Industrie sein, alle wollen Hightech sein.“

„Keiner will Industrie sein, alle wollen Hightech sein.“ Sven Prange, Mitglied der Chefredaktion der Wirtschaftswoche

Das von Prange beschriebene Kernproblem lautet: Viele Manager sowie Politiker finden die digitale Welt zwar irgendwie vielversprechend, könnten aber häufig nichts Konkretes damit anfangen.

„Um das zu kaschieren, gibt sich die Führungskraft von heute möglichst aufgeschlossen. Wer den Hemdkragen offen trägt und immer ruft, dass sich alles ändert, alles digitalisiert wird, und künstliche Intelligenz schon alle Probleme dieser Welt lösen werde, fühlt sich immerhin auf der richtigen Seite der Geschichte.

Leider kamen dann doch ab und an einige wesentliche Fragen auf, die nur spärlich bis gar nicht beantwortet wurden: Wie sehen Arbeitsmärkte aus, wenn Roboter die Arbeit erledigen? Wie finanzieren sich Staaten, wenn mit Arbeit womöglich auch Einkommenssteuern wegfallen? Wie viel europäisch geprägte soziale Marktwirtschaft wollen wir eigentlich ins neue Zeitalter retten?“

All diese Fragen sind bisher nicht wirklich beantwortet worden. Was nicht heißt, dass sich die gewünschten Wachstumseffekte nicht noch einstellen werden.

# Logik des Schachbretts

Die MIT-Wissenschaftler Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee, zeigen in ihrem Beststeller „The Second Machine Age“ auf, dass der aktuelle Rückgang des Produktivitätswachstums tatsächlich nur eine vorübergehende Erscheinung sein könnte. Der große Effizienzschub durch die neuen Technologien wird ihrer Meinung nach erst noch kommen – und dann mit voller Kraft.

Hierzu noch einmal das Handelsblatt in seiner Artikelserie „Digital vernetzt – Die Zukunft der Industrie“: „Nach Ansicht der MIT-Wissenschaftler Brynjolfsson und McAfee ist das Schachbrett der Digitalisierung gerade zur Hälfte gefüllt. Beweise dafür gibt es überall: Im Jahr 2005 hielten die zwei Ökonomen Frank Levy und Richard Murnane etwa ein selbstfahrendes Auto für technisch nicht möglich, doch nur ein paar Jahre später schickte Google seine erste kleine Fahrzeug-Flotte auf die Straßen. Genauso erschien es vor wenigen Jahren noch unheimlich schwierig, dass Maschinen geschriebene oder gesprochene Sprache verstehen oder Bilder erkennen könnten: Heute gibt es Facebooks Gesichtserkennungssoftware und Apples Sprachsoftware Siri.

Unterstützung für die Theorie der MIT-Wissenschaftler kommt auch von Stanford-Historiker Paul David. Nach seinen Studien hat es in der Vergangenheit jeweils mehr als 30 Jahre gedauert, bis Erfindungen wie die Dampfmaschine oder die Elektrizität ihre vollen Produktivitätseffekte entfaltet haben. Schließlich benötigten neue Technologien auch neue Strukturen – und bis diese aufgebaut seien, brauche es einfach Zeit. Dann aber schreite die Entwicklung rasant voran.“

# Lösung der Menschheitsprobleme

Man kann noch weitergehen und in der Digitalisierung nicht nur den Schlüssel zur Erzielung von mehr Wachstum sehen, sondern auch eine wichtige Voraussetzung für die Lösung vieler Probleme, mit denen die Menschheit zukünftig zu kämpfen haben wird.

Die zunehmende Überbevölkerung der Welt, die daraus resultierende Ressourcenknappheit, der Energieeffizienzdruck, die Notwendigkeit der Schaffung von Smart Mega-Cities, Smart Homes, Smart Farming und Smart Transportation Solutions, all dies lässt sich ohne eine fortschreitende Digitalisierung kaum denken.

Allerdings gilt natürlich genauso das Gegenteil: Die Digitalisierung kann, falsch umgesetzt, die Probleme der Menschheit durchaus auch erhöhen. So besitzt sie beispielsweise das Potenzial, die Umweltbelastungen deutlich zu steigern, statt diese zu vermindern (man denke nur an das gestiegene Logistik- und Transportaufkommen), zu mehr Ineffizienz statt Effizienz zu führen (Stichwort: Datenflut) und die wirtschaftlichen wie persönlichen Freiheiten tatsächlich einzuengen, statt diese zu vergrößern.

# Faktor Mensch

Ob die mit der Digitalisierung verbundenen Chancen also tatsächlich eintreten und die Risiken übertreffen werden, hängt nicht zuletzt von uns Menschen ab.

Das gilt nicht nur für die Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes, sondern ebenso auch für jedes Unternehmen. Wie und wozu es die neuen Technologien nutzt, um die eigene Zukunftsentwicklung proaktiv zu gestalten, liegt schließlich immer noch an jedem Unternehmen selbst. Und auch daran, wie es diesen technologischen Transformationen mit notwendigen Anforderungen in der eigenen kulturellen Entwicklung des Unternehmens begegnet.

„Der Erfolg der Digitalisierung hängt in erster Linie von den Menschen (...) ab.“ Kernbotschaft, Digital Leadership Summit 2017

Meg Withman, Chefin des Technologiekonzerns Hewlett Packard, hat dies Anfang 2016 in Davos folgendermaßen beschrieben: „Vieles ist nicht Problem der Technik, sondern der Kultur bei der Transformation.“

# Eine neue Führungskultur

Genau hier kommt die Führung ist Spiel. Um den technologischen Wandel nämlich nicht nur proaktiv zu gestalten, sondern um auch die Unternehmenskultur parallel dazu entsprechend anzupassen, ist gute Führung erforderlich.

Es verwundert daher nicht, dass die Debatte um die Digitalisierung längst schon im Führungskontext angekommen ist: „Disruptive Thinking“, „Eine neue Führungskultur“, „Wille zum Kulturbruch“, „Agile Führung“, „Leadership 4.0“, „Digital Governance“, so lauten die meist euphemistischen Beschreibungen neuer digitaler Führungsqualitäten.

Allerdings nehmen auch im Wirtschaftsumfeld die Publikationen, die darauf verweisen, dass nicht nur „heiter Sonnenschein“ herrscht im neuen Wunderland der digitalen Führung, mehr und mehr zu. „Deutsche Wirtschaft verpasst die Digitalisierung“, „Unternehmen im Digitalisierungsdilemma“, „Viele Chefs stellen sich nicht auf die Digitalisierung ein“, „So krank macht uns die digitale Arbeitswelt“ ...

Dabei sind es nicht nur die Digitalisierung und die mit ihr verbundenen spezifischen Chancen sowie Risiken und Probleme, durch die Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeiter in zunehmendem Maße herausgefordert werden, sondern auch der vielzitierte Wertewandel. „Generationswechsel auf dem Arbeitsmarkt“, „The next Billion“, „Generation X, Y, Z“, „Digital Natives“, „Employees 2.0“ etc. Dies sind nur einige der vielfältigen Schlagworte, die den aktuellen Wertewandel in der Arbeitswelt beschreiben.

Tatsächlich hat durch diesen Wertewandel – aber auch durch andere Faktoren wie etwa den zunehmenden „War for Talents“ befeuert – das Bewusstsein für kulturelle Führungsfragen in Unternehmen deutlich zugenommen. Damit hat sich auch das Leitbild von Führung erheblich verschoben.

# Der moderne Chef

Die Chefs von heute sind selbstverständlich nicht mehr patriarchalisch, dominant, streng, alles bestimmen wollend, meist übergewichtig und überhaupt nur schwer genießbar. Im Gegenteil: Der moderne Chef (oder besser noch die moderne Chefin) ist modern, freundlich, offen und mitarbeiterorientiert. Er/sie ist leger angezogen, lebt gesund, ist immer gut drauf und kommt lieber mit dem Rucksack als mit dem Aktenkoffer ins Büro.

Dieses bereits seit Jahren kolportierte neue Leitbild der Führung hat durch die Digitalisierung noch einmal einen ganz neuen Twist bekommen: Nicht nur nett soll er/sie sein. Der Chef/die Chefin der Zukunft ist vielmehr auch überaus „agil“, „technologie-, design- & scrum-minded“ und natürlich „mega disruptiv“.

# Alles total digital optimal?

Allen Unkenrufen zum Trotz scheint all dies jedoch nur bedingt zu fruchten. Warum sonst, scheitern immer noch so viele Führungskräfte bei der Umsetzung der von ihnen initiierten digitalen Veränderungsprozesse in Unternehmen? Warum werden so viele Digitalstrategien (gleichermaßen von etablierten Playern wie Start-ups) immer noch in den Sand gesetzt (noch immer scheitern 9 von 10 Neugründungen)? Warum nehmen die Risiken, Krisensituationen und Sicherheitsprobleme in Unternehmen ständig zu? Und warum werden so viele der gesetzten Transformationsziele nach wie vor nie erreicht?

Warum haben die Krankenstände in digitalen Zeiten nicht durchweg ab-, sondern eher zugenommen? Warum gibt es nach wie vor Phänomene wie Burn-outs und innere Kündigungen, und zwar nicht nur auf den unteren, sondern auch auf den mittleren und oberen Führungsebenen? Warum wechseln selbst in den scheinbar so „heilen“ neuen digitalen Arbeitswelten die Mitarbeiter immer schneller ihren Arbeitsplatz?

Warum wird die Wirtschaft nach wie vor und in den letzten Jahren mehr denn je von erheblichen Skandalen erschüttert, die am Ende vor allem eines tun: über Jahre mühevoll erarbeitete Werte in manchmal kürzester Zeit zu vernichten? Wie kann das passieren, obwohl nicht nur die rationalen Steuerungssysteme der Unternehmen (Controlling, Corporate Governance, Compliance etc.), sondern auch die sogenannten weichen Faktoren (flache Hierarchien, Teambuilding, Mitarbeiterorientierung ...) eigentlich etwas Anderes nahelegen?

Genau diese Fragen haben wir uns gestellt und sind dabei in der gemeinsamen Diskussion zu ein paar Schlussfolgerungen gekommen, die wir gerne mit Ihnen teilen möchten.

# Die Bedeutung des Analogen

Wir glauben fest daran, dass Führung heute radikal anders aussehen sollte, aber nicht im Sinne von „harder, faster, stronger“ oder gar nur „disruptiver“ und „digitaler“.

Was man bei aller Digitalisierung nämlich nicht vergessen darf, ist, dass wir Menschen durch und durch analoge Wesen sind. Die digitale Transformation braucht deshalb mehr denn je einen analogen Umgang mit den Herausforderungen von heute und morgen.

People are not robots, don't port their brains directly to the Internet, are actually spectacularly bad at multitasking, have generally short attention spans, and really, truly, don't spend much time thinking about your brand”, so die amerikanische Beraterin Kathryn Pepper Miller in einem Beitrag auf LinkedIn.

„In the drive to digitize everything and push it out everywhere, it's easy to forget an unalterable fact: humans are analog.“ Kathryn Pepper Miller, Co-Founder setof1

Es sind daher die Schnittstellen zwischen dem analogen Menschen und der digitalen Welt, die zentral sind für unsere Zukunft und die Führung von Unternehmen vor fundamentale Herausforderungen stellen.

Die Antwort auf diese Herausforderung ist im Prinzip viel simpler als die Komplexität der äußeren Umstände es nahelegt. Sie ist nämlich im eigenen Inneren der Führungskräfte selbst zu finden. Um gerade in digitalen Zeiten richtig und gut führen zu können, müssen Manager zunächst ihr Bild auf die Welt, ihr Unternehmen, ihre Mitarbeiter, ihre Kunden, ihre Geschäftspartner und auch ihr eigenes Selbst verändern, sonst kann die äußere Transformation nicht gelingen.

Bemerkenswert ist, dass auf Grundlage solcher internen Veränderungen plötzlich Veränderungen im Außen (neue Strategien, Innovationen, Produkte, Services, Organisationsformen) möglich werden, die vorher scheinbar unüberwindbare Hindernisse dargestellt haben.

# Raus aus der Komfortzone

Das Gute daran ist: Innere Veränderungsprozesse besitzen einen „high impact“ bei „low cost“. Das bedeutet aber nicht, dass die Konsequenzen, die sich die daraus ergeben, einfach umsetzen ließen. Im Gegenteil.

Manager sind es gewohnt, Lösungen für Probleme oder Herausforderungen vor allem im Außen zu suchen (am Markt, in Tools, in Strategien, in der Organisation), nicht bei sich selbst. Das haben sie nicht nur an der Universität so gelernt und in vielen Management-Ratgebern so gelesen. Das ist auch die natürliche persönliche Komfortzone. Da kennen sie sich aus. Das gibt ihnen Sicherheit.

„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Albert Einstein

Die Konsequenz daraus: Alles was im Bereich der Psychologie angesiedelt ist, wird schnell als Esoterik abgetan, es sei denn, es lässt sich irgendwie instrumentalisieren. Dabei hat nicht zuletzt die verhaltensorientierte Wirtschaftsforschung der letzten Jahrzehnte vor allem eines gezeigt: Kaum ein Bereich des menschlichen Lebens ist so immanent von psychologischen Phänomenen geprägt wie das Wirtschaftsleben. Das betrifft selbstverständlich auch den Bereich der Führung.

# Die „Delete“-Taste drücken

Leadership in Zeiten der Digitalisierung kann deshalb nicht einfach weitermachen wie bisher. Sie muss die innere DELETE-Taste drücken, um alte Muster hinter sich zu lassen und dadurch neue Möglichkeitsräume zu eröffnen. In vielen Gesprächen, Beratungs- und Coaching-Projekten, die wir in den vergangenen Jahren begleitet haben, haben wir beobachtet, dass diejenigen Führungskräfte und Unternehmen am erfolgreichsten sind, die ihre Kultur als Ausgangspunkt gesehen haben.Bevor wir uns jedoch näher mit der Frage der Transformation von Kultur und Führung im Zeitalter des Digitalen auseinandersetzen, wagen wir noch einmal einen näheren Blick auf die Digitalisierung an sich und darauf, wie diese das wirtschaftliche Leben in den letzten Jahrzehnten bereits fundamental verändert hat.